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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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er. »Aber da ist noch irgendetwas anderes. Ich sehe ihr an, dass sie unter enormem Druck steht.«
    »Dieser Mordanschlag im Kloster ist ja auch kein einfacher Fall.«
    »Es ist nicht die Ermittlung. Da ist noch etwas anderes, das sie beschäftigt. Etwas, worüber sie nicht reden will.«
    »Da dürfen Sie nicht mich fragen. Sie müssen mit Jane selbst sprechen.«
    »Das habe ich ja versucht.«
    »Und?«
    »Sie gibt sich immer nur ganz kühl und geschäftsmäßig. Sie wissen ja, wie sie manchmal ist – der reinste Robocop.«
    Er seufzte und fügte leise hinzu: »Ich glaube, ich habe sie verloren.«
    »Beantworten Sie mir eine Frage, Agent Dean.«
    »Ja?«
    »Lieben Sie sie?«
    Er erwiderte ihren Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich hätte Ihnen diese Frage nicht gestellt, wenn es nicht so wäre.«
    »Dann dürfen Sie mir eines glauben: Sie haben sie nicht verloren. Wenn Sie ihnen abweisend erscheint, dann liegt es nur daran, dass sie Angst hat.«
    »Jane?« Er schüttelte lachend den Kopf. »Die hat vor gar nichts Angst. Und am allerwenigsten vor mir.«
    Sie sah ihm nach, als er zur Tür hinausging, und dachte: Du irrst dich. Wir haben alle Angst vor den Menschen, die uns wirklich wehtun können.
    Als Kind hatte Rizzoli den Winter geliebt. Den ganzen Sommer über hatte sie sich auf die ersten Schneeflocken gefreut, auf den Morgen, an dem sie den Vorhang ihres Schlafzimmerfensters zurückziehen und auf eine makellose Schneedecke blicken würde, noch unversehrt von Fußspuren. Und wenn der Tag endlich gekommen war, war sie jauchzend hinausgerannt und hatte sich kopfüber in die nächste Schneewehe gestürzt.
    Doch als sie sich jetzt durch den dichten Nachmittagsverkehr quälte, fragte sie sich nur noch, wo der ganze Zauber geblieben war.
    Die Aussicht, den morgigen Heiligabend mit ihrer Familie zu verbringen, konnte ihre Laune auch nicht heben. Sie wusste genau, wie der Abend ablaufen würde: Ihr Bruder Frankie würde wieder mal zu viel Eierpunsch mit Rum in sich hineinschütten und zunehmend lauter und nerviger werden. Ihr Vater würde die Fernbedienung schwingen wie ein Zepter und den Sportkanal so laut drehen, dass keine vernünftige Unterhaltung mehr möglich war. Und ihre Mutter Angela würde irgendwann erschöpft im Sessel einnicken, nachdem sie von morgens bis abends am Herd gestanden hatte. Jedes Jahr die gleichen alten Rituale – aber das macht uns wohl zu einer Familie, dachte sie. Einmal im Jahr machen wir alle dasselbe, und zwar so, wie wir es immer schon gemacht haben – ob es uns nun glücklich macht oder nicht.
    Sie hatte zwar nicht die geringste Lust auf einen Einkaufsbummel, aber sie konnte es nicht länger vor sich herschieben. Bei Rizzolis durfte man nun einmal am Heiligabend nicht ohne den obligatorischen Berg von Geschenken aufkreuzen. Es spielte keine Rolle, wie unpassend sie waren – Hauptsache, es war alles hübsch verpackt, und jeder bekam irgendetwas. Letztes Jahr hatte ihr Bruder Frankie, dieses Arschloch, ihr eine Geldbörse aus Mexiko geschenkt, gefertigt aus einer getrockneten Kröte. Es war eine gemeine Anspielung auf den Spitznamen, mit dem er sie immer geärgert hatte. Eine Kröte für Jane, den Frosch.
    Dieses Jahr war Frankie fällig.
    Auf der Suche nach einem Pendant zu der getrockneten Kröte schob sie ihren Einkaufswagen durch das Gedränge im Woolworth. Aus den Lautsprechern tönten die immer gleichen Schmalzlieder, und mechanische Weihnachtsmänner grüßten sie mit Ho-ho-hos vom Band, als sie mit grimmig entschlossener Miene an lamettabehängten Regalen vorbeistürmte. Für ihren Vater kaufte sie gefütterte Hausschuhe, für ihre Mutter eine irische Teekanne mit einem Muster aus winzigen pinkfarbenen Rosenknospen.
    Bruder Michael bekam einen karierten Bademantel, seine neue Freundin Irene Ohrringe aus blutrotem Strass. Auch Irenes kleine Jungen vergaß sie nicht – für die beiden kaufte sie Schneeanzüge mit Rallyestreifen im Partnerlook.
    Aber für Frankie, den Blödmann, hatte sie noch immer nichts.
    Sie schob den Wagen an den Regalen mit der Herrenunterwäsche vorbei. Hier würde sie vielleicht fündig werden. Frankie, der Macho, im pinkfarbenen String-Tanga? Nein, das war zu eklig – so tief würde sie nicht sinken, auch nicht, um ihm eins auszuwischen. Sie ging weiter, vorbei an den Jockey-Shorts, und verlangsamte ihren Schritt, als sie zu den Boxer-Shorts kam. Sie dachte nicht an Frankie, sondern an Gabriel mit seinen grauen Anzügen und langweiligen

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