Todsünde
dann fiel die Haustür ins Schloss.
Sofort sprang sie auf und lief ins Wohnzimmer. Durch das Fenster beobachtete sie, wie er den Wagen rückwärts aus der Garage fuhr. Sie ging zur Haustür und schob den Riegel vor. Dann verriegelte sie auch die Tür zur Garage. Sie sperrte Victor aus.
Schließlich ging sie in die Küche, um auch die Hintertür abzuschließen. Ihre Hände zitterten, als sie die Kette vorlegte. Als sie sich umdrehte, sah sie ein leeres Zimmer vor sich, ein Zimmer, das ihr plötzlich fremd schien. Die Atmosphäre der Bedrohung hing noch in der Luft. Der Cocktail, den Victor für sie gemixt hatte, stand auf der Anrichte. Sie nahm das Glas, das längst nicht mehr eiskalt war, und goss den Cocktail in den Ausguss, als wenn er verdorben wäre.
Sie selbst fühlte sich mit einem Mal beschmutzt durch seine Berührung. Durch den Sex mit ihm.
Sofort stürmte sie ins Bad, riss sich die Kleider vom Leib und stieg in die Dusche. Und dann stand sie lange unter dem heißen Wasserstrahl und versuchte alle Spuren seiner Berührung von sich abzuwaschen, doch was sie nicht loswurde, waren die Erinnerungen. Wenn sie die Augen schloss, war es immer noch sein Gesicht, das sie sah, seine Berührung, die sie auf ihrer Haut spürte.
Im Schlafzimmer zog sie das Bett ab, und wieder wehte ihr sein Duft entgegen. Wieder eine schmerzliche Erinnerung. Sie bezog das Bett mit frischen Laken und tauschte im Bad die Handtücher, die er benutzt hatte, gegen saubere aus. Dann ging sie in die Küche und warf das Essen vom Heimservice weg, das er zum Aufwärmen in den Ofen gestellt hatte – Auberginenauflauf mit Parmesan.
An diesem Abend aß sie nichts; stattdessen schenkte sie sich ein Glas Rotwein ein und ging damit ins Wohnzimmer. Dort schaltete sie den Gaskamin ein, setzte sich in den Sessel und starrte den Baum an.
Frohe Weihnachten, dachte sie. Ich kann den Brustkorb einer Leiche aufschneiden und ausräumen. Ich kann eine Lunge in dünne Scheiben schneiden und unter dem Mikroskop auf Krebs, Tuberkulose oder Emphyseme untersuchen. Aber das Geheimnis des menschlichen Herzens entzieht sich meinen Künsten und meinem Skalpell.
Der Wein wirkte wie ein Anästhetikum, er tötete ihren Schmerz ab. Sie trank das Glas aus und ging zu Bett.
Mitten in der Nacht schreckte sie aus dem Schlaf hoch und hörte, wie der Wind ums Haus pfiff und die Balken knackten. Sie rang nach Luft, ihr Herz jagte, und es dauerte eine Weile, bis sie sich ganz aus den Fängen des Albtraums befreit hatte. Verkohlte Leichen, wie schwarze Äste auf einem Scheiterhaufen gestapelt. Flammen warfen ihr flackerndes Licht auf einen Kreis von Gestalten, die um das Feuer herumstanden. Und sie selbst, sie kauerte im Schatten, versuchte sich vor dem Feuerschein zu verbergen. Bis in meine Träume verfolgen mich diese Bilder, dachte sie. Ich muss mit diesem apokalyptischen Inferno in meinem Kopf leben.
Sie streckte die Hand aus und fühlte kühle Laken neben sich, dort, wo Victor letzte Nacht noch geschlafen hatte. Und plötzlich vermisste sie ihn so sehr, dass sie die Arme um ihren Leib schlingen und gegen die schmerzliche Leere ankämpfen musste, die sie in sich fühlte.
Wenn er nun doch Recht gehabt hatte? Wenn er ihr tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte?
Als der Morgen graute, stand sie auf. Sie fühlte sich unausgeschlafen, wie benommen vor Müdigkeit. In der Küche kochte sie Kaffee und setzte sich mit der Tasse an den Tisch. Fahles Morgenlicht fiel durchs Fenster, als sie ihren Kaffee trank. Ihr Blick fiel auf den Ordner mit den Fotos, der immer noch auf dem Tisch lag.
Sie schlug ihn auf und sah die Bilder, die ihre Albträume ausgelöst hatten. Die verbrannten Leichen, die geschwärzten Ruinen der Hütten. So viele Tote, dachte sie, allesamt Opfer einer einzigen nächtlichen Gewaltorgie. Welche rasende Wut hatte die Angreifer angetrieben, dass sie selbst die Tiere abgeschlachtet hatten? Sie blickte auf das Foto von toten Ziegen und Menschen, ein einziges Durcheinander menschlicher und tierischer Überreste.
Die Ziegen. Wieso die Ziegen?
Vergeblich grübelte sie darüber nach, versuchte zu begreifen, was das Motiv für diese sinnlose Zerstörungswut gewesen sein mochte.
Tote Tiere.
Sie nahm sich das nächste Foto vor. Es zeigte die One-Earth-Klinik, die Hohlblockmauern von Feuer geschwärzt, vor dem Eingang der Haufen verbrannter Leichen. Doch es waren nicht die Toten, auf die sie sich konzentrierte, es war das Dach des Klinikgebäudes, ein Wellblechdach,
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