Todsünde
gerade erst erfahren, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde.«
»Haben Sie die Telefonnummer ihres Neffen?«, fragte Yuen ihn. »Ich habe vergessen, ihn danach zu fragen, als er mich anrief. Er sagte, er wolle auch noch mit Ihnen sprechen.«
Sutcliffe nickte. »Ja, die habe ich. Es wird das Einfachste sein, wenn ich in Kontakt mit der Familie bleibe. Ich werde sie über ihren Zustand auf dem Laufenden halten.«
»Wie ist denn ihr Zustand?«, fragte Maura.
»Vom internistischen Standpunkt her würde ich sagen, stabil«, meinte Sutcliffe.
»Und aus neurologischer Sicht?« Sie sah Yuen an.
Er schüttelte den Kopf. »Es ist noch zu früh für ein Urteil. Im OP ist alles gut gelaufen, aber, wie ich eben zu Dr. Sutcliffe sagte, selbst wenn sie das Bewusstsein wiedererlangt – und das ist durchaus zweifelhaft –, ist es unwahrscheinlich, dass sie sich an irgendwelche Einzelheiten des Überfalls erinnern wird. Schädelverletzungen gehen häufig mit retrograder Amnesie einher.« Das Piepsen seines Pagers unterbrach ihn. »Entschuldigen Sie mich bitte, ich werde gerufen. Dr. Sutcliffe kann Ihnen ja alle Fragen zur Krankengeschichte der Patientin beantworten.« Mit zwei raschen Schritten war er draußen.
Sutcliffe hielt Maura sein Stethoskop hin. »Wenn Sie möchten, können Sie sie selbst untersuchen.«
Maura nahm das Stethoskop und trat ans Bett. Einige Sekunden lang sah sie einfach nur zu, wie Schwester Ursulas Brust sich hob und senkte. Es kam nicht oft vor, dass sie einen lebenden Menschen untersuchte; sie musste sich erst ihre klinischen Kenntnisse wieder ins Gedächtnis rufen. Und sie war sich peinlich bewusst, dass Dr. Sutcliffe nun Zeuge wurde, wie sehr sie aus der Übung war, wenn es darum ging, einen Körper zu untersuchen, in dem noch ein Herz schlug. So lange schon arbeitete sie nur mit Toten, dass sie sich inzwischen am Bett einer lebenden Patientin einigermaßen verloren vorkam. Sutcliffe stand am Kopfende, eine einschüchternde Erscheinung mit seinen breiten Schultern und seinem durchdringenden Blick. Er sah aufmerksam zu, wie sie mit einer Taschenlampe in die Augen der Patientin leuchtete und ihren Hals abtastete. Behutsam glitten ihre Finger über die warme Haut – so ganz anders als das gekühlte Fleisch, das sie bei ihrer täglichen Arbeit berührte.
Sie hielt inne. »Auf der rechten Seite ist kein Karotispuls zu finden.«
»Was?«
»An der linken Halsschlagader kann ich einen starken Puls tasten, aber nicht rechts.« Sie griff nach dem Krankenblatt und schlug das OP-Protokoll auf. »Ah, der Anästhesist erwähnt es hier: ›Fehlen der rechten Arteria carotis communis festgestellt. Höchstwahrscheinlich normale anatomische Abweichung.‹«
Er runzelte die Stirn, und sein gebräuntes Gesicht lief dunkelrot an. »Das hatte ich vergessen.«
»Das Fehlen eines Pulses auf dieser Seite war also bekannt?«
Er nickte. »Angeboren.«
Maura setzte sich das Stethoskop auf die Ohren und schlug den OP-Kittel zurück, so dass Ursulas große Brüste frei lagen. Trotz ihrer achtundsechzig Jahre war ihre Haut noch makellos weiß und jugendlich. Schließlich war sie auch über Jahrzehnte durch die Nonnentracht vor den verderblichen Strahlen der Sonne geschützt worden. Sie drückte die Membran auf Ursulas Brust und hörte einen regelmäßigen, kräftigen Herzschlag. Das Herz einer Kämpferin, das ungebrochen weiterpumpte.
Eine Krankenschwester steckte den Kopf durch den Vorhang. »Dr. Sutcliffe? Die Röntgenabteilung hat gerade angerufen. Die Brustaufnahmen wären fertig, wenn Sie runtergehen und einen Blick drauf werfen möchten.«
»Danke.« Er sah Maura an. »Wir können uns auch die Schädelaufnahmen anschauen, wenn Sie wollen.«
Sie teilten die Aufzugskabine mit sechs jungen Praktikantinnen mit rosigen Wangen und glänzenden Haaren, die Dr. Sutcliffe schmachtende Blicke zuwarfen und dabei verlegen kicherten. Er war ja auch tatsächlich sehr attraktiv, schien jedoch gar nicht zu registrieren, dass er im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stand. Stattdessen fixierte er mit ernster Miene die Anzeige mit den wechselnden Stockwerksnummern. Die Aura, die so ein weißer Kittel verleiht, dachte Maura, während sie an ihre eigene Zeit als freiwillige Helferin im St.-Luke’s-Hospital in San Francisco zurückdachte. Als Teenager waren ihr die Ärzte wie unantastbare, über allem schwebende Halbgötter vorgekommen. Jetzt, da sie selbst ausgebildete Ärztin war, wusste sie nur zu gut, dass ein weißer Kittel sie
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