Todsünde
Skelett würde immer das einer jungen Frau bleiben, auch nachdem man sie zu Grabe getragen hatte.
Yoshima hatte die Leiche geröntgt, als sie noch vollständig bekleidet gewesen war; eine Vorsichtsmaßnahme, mit der man sicherstellen wollte, dass keine losen Geschosse oder anderen Metallfragmente, die in der Kleidung hingen, übersehen wurden. Bis auf das Kruzifix und ein paar kleinere Objekte auf der Brust, die durch ihre Form eindeutig als Sicherheitsnadeln zu identifizieren waren, ließen die Röntgenaufnahmen keine Metallgegenstände erkennen.
Maura hängte die Aufnahmen des Rumpfes ab. Die steife Folie gab ein melodisches, schwirrendes Geräusch von sich, als sie sich in Mauras Hand bog. Nun griff sie nach den Schädelbildern und klemmte sie an den Kasten.
»Mein Gott«, murmelte Detective Frost.
Die Kopfverletzungen waren in der Tat grauenhaft. Einer der Schläge war so hart gewesen, dass Knochensplitter tief in das Schädelinnere hineingetrieben worden waren. Obwohl Maura noch keinen einzigen Schnitt geführt hatte, konnte sie sich die V erwüstung im Schädelinneren lebhaft vorstellen: die zerrissenen Gefäße, die Ansammlungen von geronnenem Blut. Und das Gehirn, das sich unter dem wachsenden Druck der Blutergüsse verformt hatte.
»Erzählen Sie uns was, Doc«, forderte Rizzoli sie nüchtern und knapp auf. Sie sah wesentlich besser aus als am Tag zuvor. Mit ihrem gewohnten forschen Schritt war sie in das Institut gestürmt – ihre alte Kampfeslust schien wieder erwacht. »Was sehen Sie da?«
»Drei voneinander unabhängige Schläge«, antwortete Maura. »Der erste hat sie hier getroffen, am Scheitel.« Sie deutete auf eine einzelne Bruchlinie, die sich diagonal zur Stirn hin zog. »Danach folgten zwei weitere Schläge auf den Hinterkopf. Ich vermute, dass sie zu diesem Zeitpunkt mit dem Gesicht nach unten am Boden lag. Sie war in diesem Moment vollkommen wehrlos – und da zerschmetterte ihr der letzte Schlag den Schädel.«
Die Szene, die sie schilderte, war so grauenvoll, dass die beiden Ermittler für eine Weile verstummten, während sie sich ausmalten, wie die gestürzte Frau dort in der Kapelle gelegen hatte, das Gesicht auf den Steinboden gepresst. Wie der Angreifer den Arm gehoben hatte, die Mordwaffe fest in der Hand. Und dann das Geräusch zerberstender Knochen, das die Stille zerriss.
»Wie ein Robbenbaby, das mit der Keule erschlagen wird«, sagte Rizzoli. »Sie hatte keine Chance.«
Maura drehte sich zum Obduktionstisch um, auf dem Camille Maginnes in ihrer blutgetränkten Novizinnentracht lag. »Jetzt wollen wir sie ausziehen.«
Yoshima hatte schon Kittel und Handschuhe übergezogen und stand wartend da, der gute Geist des Autopsiesaals. Lautlos hatte er im Hintergrund gewirkt, hatte die Instrumente ausgelegt, die Lampen ausgerichtet und Probenbehälter bereitgestellt. Maura musste so gut wie nichts sagen – ein Blick genügte, und er wusste, was sie von ihm wollte.
Zunächst entfernten sie die schwarzen Lederschuhe – hässlich, aber praktisch. Dann zögerten sie angesichts der vielen Kleidungsschichten, in die das Opfer gehüllt war. Eine Nonne zu entkleiden, war eine Aufgabe, mit der sie noch nie konfrontiert gewesen waren.
»Als Erstes sollten wir ihr die Haube abnehmen«, sagte Maura. »Aber ich kann an der Vorderseite keinen Verschluss entdecken. Und auf dem Röntgenbild war auch kein Reißverschluss zu erkennen. Drehen wir sie auf die Seite, damit ich hinten nachsehen kann.«
Der Körper, bei dem inzwischen die Totenstarre eingesetzt hatte, fühlte sich leicht an, wie der eines Kindes. Gemeinsam rollten sie ihn auf die Seite, und Maura zog die Säume der Haube auseinander.
»Ein Klettverschluss«, sagte sie.
Frost lachte ungläubig auf. »Sie machen Witze.«
»Mittelalter und Neuzeit treffen aufeinander.« Maura nahm der Toten die Haube ab, faltete sie zusammen und legte sie auf eine Plastikfolie.
»Das finde ich irgendwie ziemlich desillusionierend. Nonnen, die Klettverschlüsse benutzen.«
»Wäre es Ihnen lieber, wenn sie im Mittelalter stehen geblieben wären?«, fragte Rizzoli.
»Ich hatte mir eben vorgestellt, dass sie ein bisschen traditionsbewusster wären.«
»Tut mir Leid, Sie enttäuschen zu müssen, Detective Frost«, sagte Maura, während sie die Kette mit dem Kruzifix entfernte. »Aber heutzutage haben manche Klöster sogar schon ihre eigenen Websites.«
»Ach du liebes bisschen. Nonnen im Internet. Das haut mich echt von den Socken.«
»So, als
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