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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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suchen wir schon den ganzen Nachmittag. Aber es braucht nun mal Zeit, bis man sich jeden Schrank und jede Schublade vorgenommen hat. Und dann gibt es ja noch das Feld hinter dem Haus und den Garten – wer weiß, was sich da unter dem Schnee verbirgt? Sie könnte es auch einfach in Lumpen gewickelt und vor ein paar Tagen schon in die Mülltonne geworfen haben. Oder sie hat es irgendwem durch das Tor nach draußen gereicht. Wir könnten Tage damit zubringen, nach etwas zu suchen, was vielleicht gar nicht hier ist.«
    »Was sagt die Äbtissin dazu?«
    »Ich habe ihr nicht gesagt, wonach wir suchen.«
    »Warum nicht?«
    »Ich will nicht, dass sie es erfährt.«
    »Aber sie könnte Ihnen vielleicht helfen.«
    »Oder sie könnte dafür sorgen, dass wir es ganz bestimmt nicht finden. Glauben Sie nicht, dass die Erzdiözese vorläufig genug von Skandalen hat? Meinen Sie, die Äbtissin will, dass alle Welt erfährt, dass eine Schwester aus ihrem Orden ihr eigenes Baby getötet hat?«
    »Wir wissen nicht, ob das Kind tot ist. Wir wissen nur, dass es verschwunden ist.«
    »Und Sie sind sich absolut sicher, was Ihren Autopsiebefund betrifft?«
    »Ja. Camille war hochschwanger. Und ich glaube im Übrigen nicht an so etwas wie eine unbefleckte Empfängnis.« Sie setzte sich zu Rizzoli aufs Bett. »Der Vater dieses Kindes ist vielleicht der Schlüssel zu dem Verbrechen. Wir müssen ihn identifizieren.«
    »Ja. Ich habe auch gerade über dieses Wort nachgedacht. Vater – das klingt so ähnlich wie ›Pater‹.«
    »Pater Brophy?«
    »Gut aussehender Mann. Haben Sie ihn schon gesehen?«
    Maura erinnerte sich an die strahlenden blauen Augen, die sie über den am Boden liegenden Kameramann hinweg angeblickt hatten. An den Mann, der aus dem Klostertor getreten war wie ein schwarz gewandeter Krieger, um sich dem Wolfsrudel der Reporter entgegenzustellen.
    »Er hatte regelmäßig Zugang zum Kloster«, sagte Rizzoli. »Er hat die Messe gelesen. Er hat ihnen die Beichte abgenommen. Gibt es etwas Intimeres, als einem anderen in einem Beichtstuhl seine Geheimnisse anzuvertrauen?«
    »Dann gehen Sie also davon aus, dass es sich um einvernehmlichen Sex gehandelt hat.«
    »Ich sage nur, dass der Typ gut aussieht.«
    »Wir wissen nicht, ob das Kind hier im Kloster gezeugt wurde. Hat Camille nicht im März ihre Familie besucht?«
    »Ja. Nach dem Tod ihrer Großmutter.«
    »Zeitlich würde es gut passen. Wenn sie das Kind im März empfangen hat, wäre sie jetzt im neunten Monat gewesen. Es könnte während dieses Familienbesuchs passiert sein.«
    »Und es könnte auch hier passiert sein. In diesen Mauern.« Rizzoli lachte zynisch auf. »So viel zum Thema Keuschheitsgelübde.«
    Sie saßen eine Weile schweigend da und blickten beide zu dem Kruzifix an der Wand auf. Wie unvollkommen wir Menschen doch sind, dachte Maura. Wenn es einen Gott gibt, warum stellt er derart überhöhte Anforderungen an uns? Warum setzt er uns Ziele, die wir nie erreichen können?
    »Ich wollte früher auch einmal Nonne werden«, sagte Maura.
    »Ich dachte, Sie glauben nicht an Gott?«
    »Ich war damals erst neun. Und ich hatte gerade erfahren, dass ich adoptiert war. Meine Cousine hatte die Katze aus dem Sack gelassen – eine dieser scheußlichen Enthüllungen, die mit einem Schlag alles erklären. Warum ich meinen Eltern nicht ähnlich sah. Warum es keine Bilder von mir als Baby gab. Ich habe mich das ganze Wochenende in meinem Zimmer verkrochen und mir die Augen aus dem Kopf geweint.« Sie schüttelte den Kopf. »Meine armen Eltern. Sie wussten nicht, was sie tun sollten, und so sind sie mit mir ins Kino gegangen, um mich aufzumuntern. Wir sahen uns The Sound of Music an – es kostete nur fünfundsiebzig Cent, weil es ein alter Film war.« Sie machte eine Pause. »Ich fand Julie Andrews wunderschön. Ich wollte so sein wie Maria. Und ins Kloster gehen.«
    »Hey, Doc, soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten?«
    »Was denn?«
    »Mir ging’s genauso.«
    Maura starrte sie an. »Sie machen wohl Witze.«
    »Gut, ich habe vielleicht den Religionsunterricht geschwänzt. Aber wer kann schon Julie Andrews widerstehen?«
    Darüber mussten sie beide lachen, doch es war ein beklommenes Lachen, das bald ins Stocken geriet und verstummte.
    »Und was hat Sie davon abgebracht?«, fragte Rizzoli.
    »Von dem Plan, Nonne zu werden?«
    Maura stand auf und trat ans Fenster. Sie blickte hinunter in den dunklen Hof und sagte: »Meine Einstellung dazu hat sich ganz einfach geändert.

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