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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Irgendwann habe ich aufgehört, an Dinge zu glauben, die ich nicht sehen oder berühren konnte. An Dinge, die sich nicht wissenschaftlich beweisen ließen.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Ach ja, und ich habe angefangen, mich für Jungs zu interessieren.«
    »O ja, die Jungs.« Rizzoli lachte. »Die kommen einem doch immer in die Quere.«
    »Das ist ja auch der eigentliche Zweck des Lebens – vom biologischen Standpunkt aus betrachtet.«
    »Sex?«
    »Fortpflanzung. Das ist es, was unsere Gene verlangen. Dass wir hingehen und uns mehren. Wir glauben, unser Leben selbst bestimmen zu können, dabei sind wir immer nur die Sklaven unserer DNA, die uns auffordert, Kinder in die Welt zu setzen.«
    Maura wandte sich um und sah zu ihrer Bestürzung Tränen in Rizzolis Wimpern glitzern. Doch im nächsten Moment waren sie schon wieder verschwunden, weggewischt mit einer hastigen Handbewegung.
    »Jane?«
    »Ich bin nur müde. Ich habe nicht besonders gut geschlafen.«
    »Und sonst fehlt Ihnen nichts?«
    »Was sollte mir denn fehlen?« Die Antwort kam ein wenig zu schnell, zu abwehrend. Rizzoli schien es selbst bemerkt zu haben, denn sie errötete. »Ich muss mal eben zur Toilette«, sagte sie und stand auf, als hätte sie es eilig, diesem Gespräch zu entfliehen. An der Tür blieb sie stehen und drehte sich um. »Übrigens, Sie haben doch das Buch dort auf dem Schreibtisch gesehen, das Camille gelesen hat, nicht wahr? Also, ich habe den Namen mal nachgeschlagen.«
    »Welchen?«
    »Heilige Brigitta von Irland. Es ist ja eine Biografie. Schon komisch, wie es für alles und jedes einen Schutzpatron gibt. Es gibt einen für Hutmacher, einen für Drogenabhängige – und sogar einen für verlorene Schlüssel, ob Sie’s glauben oder nicht.«
    »Und die heilige Brigitta?«
    »Neugeborene«, antwortete Rizzoli leise. »Brigitta ist die Schutzpatronin der Neugeborenen.« Sie ging hinaus.
    Mauras Blick fiel auf das Buch, das auf dem Schreibtisch lag. Noch am Tag zuvor hatte sie sich vorgestellt, wie Camille hier gesessen und bedächtig die Seiten umgeblättert hatte, wie sie sich vom Leben einer jungen Irin, der ein Platz in der Schar der Heiligen bestimmt war, hatte inspirieren lassen. Jetzt formte sich ein anderes Bild vor ihrem geistigen Auge – anstelle der Camille, die im Frieden mit sich und der Welt gelebt hatte, erblickte sie nun eine von Reue geplagte junge Frau, die zur heiligen Brigitta für das Seelenheil ihres toten Kindes betete. Ich bitte dich, nimm mein Kind in deine gütigen Arme. Trage es hinauf ins Licht, auch wenn es nicht getauft ist. Es ist ohne Schuld. Es ist ohne Sünde.
    Mit neuen Augen sah sie sich in dem schmucklosen Zimmer um. Der blitzsaubere Boden, der Geruch von Reinigungsmittel und Bohnerwachs – all das nahm eine neue Bedeutung an. Reinlichkeit als Metapher für Unschuld. Die »gefallene« Camille hatte verzweifelt die Flecken ihrer Sünde, ihrer Schuld auszulöschen versucht. Schon seit Monaten musste ihr klar gewesen sein, dass sie ein Kind erwartete, verborgen unter den weiten Falten ihrer Tracht. Oder hatte sie sich geweigert, der Realität ins Gesicht zu sehen? Hatte sie die Wahrheit vor sich selbst verleugnet, so wie es schwangere Teenager bisweilen tun, wenn sie das offensichtliche Anschwellen ihres Bauches hartnäckig ignorieren?
    Und was hast du getan, nachdem du dein Kind zur Welt gebracht hattest! Bist du in Panik geraten? Oder hast du den Beweis für deine Sünde kaltblütig beseitigt!
    Draußen waren Männerstimmen zu hören. Durch das Fenster sah sie die schemenhaften Gestalten von zwei Polizisten aus dem Gebäude treten. Beide blieben kurz stehen, um ihre Mantelkragen hochzuschlagen und zum Nachthimmel aufzublicken, aus dem die Schneeflocken wie Glitzerstaub herabrieselten. Dann überquerten sie den Hof und gingen zum Tor hinaus, das sich quietschend hinter ihnen schloss. Sie lauschte auf weitere Geräusche, weitere Stimmen, doch sie hörte nichts mehr. Nur die Stille einer verschneiten Winternacht. Diese unglaubliche Ruhe, dachte sie. Es ist, als wäre außer mir niemand mehr im Haus. Als hätten sie mich vergessen und allein hier zurückgelassen.
    Sie hörte ein Knarren, spürte den Hauch einer Bewegung, ahnte, dass noch jemand im Zimmer war. Ihre Nackenhaare begannen sich aufzurichten, dann lachte sie auf.
    »Mein Gott, Jane, Sie haben mich vielleicht erschreckt, was müssen Sie auch so ...« Sie drehte sich um, und die Worte erstarben ihr im Mund.
    Da war niemand.
    Einige

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