Todsünde
bei einem Kongress über Medizin in Entwicklungsländern in San Francisco kennen gelernt. Sie hatte einen Vortrag über Autopsiequoten in Ländern der Dritten Welt gehalten, er hatte als Hauptredner über die vielen menschlichen Tragödien gesprochen, mit denen die Ärzteteams von One Earth bei ihren Auslandseinsätzen in Berührung kamen. Wie er da vor seiner elegant gekleideten Zuhörerschaft gestanden hatte, hatte Victor sie eher an einen erschöpften und unrasierten Rucksacktouristen und nicht an einen Arzt erinnert. Er war auch tatsächlich gerade erst mit dem Flugzeug aus Guatemala City gekommen und hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, das Hemd zu wechseln. Nur mit einem Magazin voller Dias bewaffnet hatte er das Podium betreten. Er hatte keine ausgearbeitete Rede mitgebracht, keine Notizen, nur diese kostbare Sammlung von Bildern, die ihre tragische Geschichte auf der Leinwand erzählten. Die junge äthiopische Mutter, die mit Wundstarrkrampf im Sterben lag. Das peruanische Baby mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte, am Straßenrand ausgesetzt und verhungert. Das kasachische Mädchen im Leichentuch – gestorben an einer Lungenentzündung. Alle diese Menschen könnten noch leben, hatte er betont. Sie waren die unschuldigen Opfer von Krieg, Armut und Unwissenheit, und seine Organisation, One Earth, hätte sie retten können. Aber es fehlte ständig an Geld und an Freiwilligen, um auf all die humanitären Krisen entsprechend reagieren zu können.
Maura hatte in einer der hinteren Reihen des abgedunkelten Auditoriums gesessen, und doch hatten seine Worte sie ganz unmittelbar berührt, die flammende Leidenschaft, mit der er vom Aufbau von Zeltkliniken und den Problemen der Hilfsgüterverteilung erzählt hatte, von den vergessenen Ärmsten der Armen, die Tag für Tag von der Weltöffentlichkeit unbemerkt zugrunde gingen.
Als dann das Licht im Saal angegangen war, da hatte sie nicht mehr nur einen zerzausten und zerknitterten Buschdoktor dort am Rednerpult stehen sehen, sondern einen Mann, dessen visionäre Entschlossenheit ihn zu einer charismatischen Erscheinung machte. Sie, der in ihrem eigenen Leben Ordnung und Besonnenheit so wichtig waren, fühlte sich zu einem Mann hingezogen, dessen kompromissloses Engagement beinahe etwas Beängstigendes hatte und dessen Arbeit ihn in die wildesten, chaotischsten Gegenden der Welt führte.
Und was hatte er in ihr gesehen? Gewiss nicht eine Mitstreiterin in seinem Kreuzzug gegen das Elend. Stattdessen hatte sie Beständigkeit und Ruhe in sein Leben gebracht. Sie war diejenige, die ihr Konto ausgeglichen und den Haushalt gemanagt hatte, die zu Hause gewartet hatte, während er von Krisenherd zu Krisenherd gejettet war, von Kontinent zu Kontinent. Er lebte aus dem Koffer, stand permanent unter Hochdruck.
Ist er denn ohne mich so viel glücklicher gewesen mit seinem Leben?, fragte sie sich. Allzu glücklich sah er jedenfalls nicht aus, wie er da an ihrem Küchentisch saß und seinen Kaffee trank. In vielerlei Hinsicht war er immer noch der alte Victor. Seine Frisur war ein wenig wirr, sein Hemd hätte dringend gebügelt werden müssen, und sein Kragen war ausgefranst – all das zeigte, wie unwichtig ihm Äußerlichkeiten waren. Aber in anderen Punkten hatte er sich verändert. Er wirkte älter und müder, ungewöhnlich still, ja bedrückt, sein einstiges Feuer gedämpft durch die Jahre der Reife.
Maura setzte sich mit ihrer Kaffeetasse an den Tisch, und sie sahen einander an.
»Wir hätten dieses Gespräch schon vor drei Jahren führen sollen«, sagte er.
»Vor drei Jahren hättest du mir nicht zugehört.«
»Hast du es denn versucht? Hast du je die Karten auf den Tisch gelegt und mir offen gesagt, dass du es satt hattest, immer nur die Frau des Aktivisten zu sein?«
Sie starrte in ihre Kaffeetasse. Nein, das hatte sie ihm nicht gesagt. Sie hatte es für sich behalten – so, wie sie alle Gefühle für sich behielt, die sie beunruhigten. Zorn, Unmut, Verzweiflung – all das gefährdete ihre eiserne Selbstbeherrschung, und so etwas konnte sie nicht zulassen. Als sie endlich die Scheidungspapiere unterschrieben hatte, hatte sie das merkwürdige Gefühl gehabt, dass dies alles sie gar nicht wirklich betraf.
»Ich habe nie gewusst, wie schwer es für dich war«, sagte er. »Hätte es etwas geändert, wenn ich es dir gesagt hätte?«
»Du hättest es wenigstens versuchen können.«
»Und was hättest du dann gemacht? Dich aus der Arbeit für One Earth zurückgezogen? Es war
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