Todsünde
Earth die Rede ist.«
Er seufzte. »Ja, leider.«
»Wieso ›leider‹?«
»Es war ein schlechtes Jahr für internationale Hilfsorganisationen. So viele neue Konflikte, so viele Flüchtlinge auf den Straßen. Das ist der einzige Grund, weshalb wir in den Nachrichten auftauchen. Weil wir immer wieder diejenigen sind, die eingreifen müssen. Zum Glück haben wir dieses Jahr eine ziemlich bedeutende Spende erhalten.«
»Ein Resultat der guten Presse?«
Er zuckte mit den Achseln. »Es kommt eben immer mal wieder vor, dass ein großer Konzern sein soziales Gewissen entdeckt und beschließt, einen Scheck auszustellen.«
»Und dass sie damit Steuern sparen, ist ein angenehmer Nebeneffekt.«
»Aber dieses Geld versickert so schnell. Es muss nur irgendein Irrer irgendwo einen Krieg anzetteln, und schon haben wir es mit einer Million neuer Flüchtlinge zu tun. Mit hunderttausend Kindern, die an Typhus oder Cholera sterben. Das lässt mich nachts nicht schlafen, Maura. Ich muss immer an die Kinder denken.« Er trank einen kleinen Schluck Kaffee, dann stellte er die Tasse weg, als könnte er den bitteren Geschmack nicht mehr ertragen.
Sie betrachtete ihn, wie er so still und nachdenklich dasaß, und sie bemerkte die neuen grauen Strähnen in seinem hellen Haar. Er mag nicht mehr der Jüngste sein, dachte sie, aber er hat nichts von seinem Idealismus verloren. Es war eben dieser Idealismus, der ihn anfangs für sie interessant gemacht – und der sie letztlich in die Trennung getrieben hatte. Sie konnte nicht ständig mit der Not der Dritten Welt um Victors Aufmerksamkeit wetteifern, und sie hätte es überhaupt nie versuchen sollen. Seine Affäre mit der französischen Krankenschwester war letztlich gar nicht so überraschend gekommen. Es war eine Trotzreaktion von ihm gewesen – seine Art, seine Unabhängigkeit von ihr zu behaupten.
Jetzt schwiegen sie sich an und vermieden es, einander in die Augen zu schauen. Zwei Menschen, die sich einmal geliebt hatten und die sich jetzt nichts mehr zu sagen wussten. Maura hörte ihn aufstehen und sah, wie er zum Spülbecken ging, um seine Tasse abzuwaschen.
»Wie geht es eigentlich Dominique?«, fragte sie.
»Woher soll ich das wissen?«
»Arbeitet sie noch für One Earth?«
»Nein. Sie hat aufgehört. Es war für uns beide kein sehr angenehmer Zustand, nachdem ...« Er zuckte mit den Achseln.
»Habt ihr keinen Kontakt mehr?«
»Sie war mir nicht wichtig, Maura. Das weißt du.«
»Komisch. Für mich war sie damals sehr wichtig.«
Er drehte sich zu ihr um. »Schaffst du es vielleicht irgendwann einmal, nicht mehr wütend zu sein wegen ihr?«
»Es ist jetzt drei Jahre her. Da sollte ich wohl darüber hinweg sein.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
Sie senkte den Blick. »Du hattest eine Affäre. Ich musste wütend sein. Anders hätte ich es nicht geschafft.«
»Was nicht geschafft?«
»Dich zu verlassen. Dich aus meinem Leben zu streichen.«
Er ging auf sie zu und legte ihr die Hände auf die Schultern. Sie spürte seine Wärme, das vertraute Gefühl seiner Nähe. »Ich will nicht, dass du mich aus deinem Leben streichst«, sagte er. »Und wenn es bedeutet, dass du mich hasst. Dann empfindest du wenigsten noch irgendetwas für mich. Das ist es, was mir am meisten wehgetan hat – dass du dich einfach umdrehen und davongehen konntest. Dass dich das alles so kalt zu lassen schien.«
Das ist die einzige Art, wie ich mit so etwas umgehen kann, dachte sie, als er sie in den Arm nahm. Als sie seinen warmen Atem in den Haaren spürte. Sie hatte vor langer Zeit gelernt, all diese chaotischen Gefühle unter Verschluss zu halten. Sie passten so ganz und gar nicht zusammen, er und sie. Der überschwängliche Victor, verheiratet mit der Königin der Toten. Wie hatte sie je glauben können, dass das funktionieren würde?
Weil ich seine hitzige, leidenschaftliche Natur brauchte. Ich habe in ihm das gesucht, was ich selbst nie sein kann.
Das Klingeln des Telefons ließ Victor erstarren. Er nahm die Hände von ihren Schultern und ließ sie mit ihrer Sehnsucht nach seiner Wärme zurück. Sie stand auf und ging zu dem Apparat an der Küchenwand. Ein Blick auf die Nummer auf dem Display genügte, und sie wusste, dass dieser Anruf sie wieder hinaus in die Nacht und das Schneegestöber zerren würde. Während sie mit dem Detective sprach und sich die Wegbeschreibung notierte, sah sie aus dem Augenwinkel, wie Victor resigniert den Kopf schüttelte. Heute Abend war sie
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