Todsünde
konnte ihm in die Augen blicken und sich zumindest den Anschein der alten Stärke geben.
»Also, ich brauche jetzt endlich mein Tylenol«, sagte sie. »Sollen wir vielleicht den ganzen Tag hier rumhocken?«
Er nickte und legte den Gang ein. Die Wischerblätter schoben den Schnee von der Scheibe und gaben den Blick auf grauen Himmel und weiße Straßen frei. Den ganzen langen, brütend heißen Sommer hindurch hatte sie sich auf den Winter gefreut, auf klare Luft und reinen Schnee. Doch jetzt, als sie diese triste Stadtlandschaft vor sich sah, schwor sie sich, nie wieder über die Augusthitze zu schimpfen.
Wenn es am Freitagabend in J. P. Doyle’s Bar so richtig hoch herging, konnte man keinen Schritt tun, ohne einem Polizisten auf die Füße zu treten. Das Lokal war nur einen Steinwurf vom Revier Jamaica Plain entfernt, und von Schroeder Plaza, dem Hauptquartier des Boston Police Department, waren es auch nur zehn Minuten. Hier trafen sich die Cops nach Dienstschluss auf ein Bier und einen Plausch. Rizzoli rechnete also damit, das eine oder andere bekannte Gesicht zu sehen, als sie an diesem Abend ins Doyle’s kam, um etwas zu essen. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass sie Vince Korsak hier antreffen würde. Er saß an der Theke und trank ein Bier. Korsak hatte als Detective beim Newton Police Department gearbeitet und war vor kurzem aus dem Dienst ausgeschieden. Das Doyle’s lag jedenfalls eindeutig außerhalb seines Reviers.
Er sah sie zur Tür hereinkommen und winkte ihr zu.
»He, Rizzoli! Lange nicht gesehen.« Er deutete auf den Verband an ihrer Stirn. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«
»Ach, nichts. Im Autopsiesaal ausgerutscht, musste genäht werden. Und was führt Sie hierher?«
»Ich ziehe in dieses Viertel.«
»Was?«
»Hab gerade den Mietvertrag unterschrieben. Die Wohnung ist gleich hier um die Ecke.«
»Und was ist mit Ihrem Haus in Newton?«
»Das ist eine lange Geschichte. Sagen Sie, wollen wir vielleicht was essen? Dann kann ich Ihnen alles erzählen.«
Er griff nach seinem Bierglas. »Gehen wir doch nach nebenan und setzen uns an einen Tisch. Diese Scheiß-Raucher verpesten mir bloß die Lungen.«
»Das hat Sie doch früher nie gestört.«
»Na ja, früher war ich ja auch selbst einer von diesen Scheiß-Rauchern.«
Ein Herzinfarkt genügt, und schon wird aus einem Kettenraucher ein militanter Gesundheitsapostel, dachte Rizzoli. Sie folgte Korsak, der mit seinem massigen Leib eine breite Schneise durch das Gedränge pflügte. Zwar hatte er seit seiner Herzattacke einige Pfunde verloren, aber er war immer noch schwer genug, um bei einem Footballspiel als Linebacker einspringen zu können – und das war genau das Bild, das sich ihr aufdrängte, als sie sah, wie er sich durch die lärmende Menge schob.
Durch eine Tür gelangten sie in den Nichtraucherbereich, wo die Luft einen Deut besser war. Er wählte den Tisch direkt unter der irischen Flagge. An der Wand hingen gerahmte Zeitungsausschnitte; vergilbte Artikel aus dem Boston Globe über längst vergessene Bürgermeister und längst verstorbene Politiker. Die Kennedys, Tip O’Neill und andere Söhne der Grünen Insel, von denen viele in Bostons Polizeitruppe gedient hatten.
Korsak zwängte seinen fülligen Leib zwischen den Tisch und die Holzbank. So übergewichtig er war, wirkte er doch schlanker als damals im August, als er und Rizzoli zusammen an der Aufklärung einer Mordserie gearbeitet hatten. Auch jetzt konnte sie ihn nicht ansehen, ohne an ihre gemeinsamen Erlebnisse in diesem Sommer zu denken. Das Summen der Fliegen zwischen den Bäumen, die grausigen Geheimnisse, die der Stadtwald preisgegeben hatte, die sie dort unter dem trockenen Laub des Vorjahrs gefunden hatten. Immer noch blitzten vor ihrem inneren Auge Szenen aus jenen Wochen auf, als zwei Killer sich zusammengetan hatten, um an wohlhabenden Paaren ihre schrecklichen Fantasien auszuleben. Korsak war einer der wenigen Menschen, die wussten, wie nahe ihr dieser Fall gegangen war. Zusammen hatten sie gegen diese Bestien in Menschengestalt gekämpft und überlebt, und die gemeinsam überstandene Krise in den Ermittlungen hatte sie zusammengeschweißt.
Und doch gab es so vieles, was sie an Vince Korsak abstieß.
Sie sah ihm zu, wie er einen kräftigen Schluck von seinem Bier nahm und sich den Schnurrbart aus Schaum von der Oberlippe leckte. Wieder einmal fiel ihr seine gorillahafte Physiognomie auf. Die wulstigen Augenbrauen, die breite Nase, die borstigen
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