Todsünde
seinem Blick. Die Hilflosigkeit eines Mannes, dem seine Menschenwürde geraubt worden war. Er konnte nicht viel älter als fünfzig sein, und doch hatte sein Körper ihm bereits den Dienst aufgekündigt. Ein Speichelfaden glitzerte auf seinem Kinn und tropfte auf das Kopfkissen. Auf einem Tisch neben dem Bett stand alles bereit, was zu seiner Pflege benötigt wurde: Dosen mit Proteingetränken, Gummihandschuhe und feuchte Papiertücher; ein Karton Erwachsenenwindeln. Ein ganzes Leben reduziert auf einen Tisch voller Hygieneprodukte.
»Die Krankenschwester, die Randall abends betreut, ist heute ein bisschen spät dran – ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn wir uns hier unterhalten, damit ich ein Auge auf ihn haben kann«, sagte Lauren. »Wir haben ihn in dieses Zimmer gebracht, weil er das Meer immer so geliebt hat. Jetzt kann er es den ganzen Tag sehen.« Sie nahm ein Papiertaschentuch und wischte ihm behutsam den Speichel ab. »So, das hätten wir.« Sie drehte sich zu den beiden Ermittlern um. »Sie sehen selbst, warum ich nicht den weiten Weg nach Boston fahren wollte. Ich lasse ihn ungern für längere Zeit mit den Schwestern allein. Er wird dann immer so unruhig. Er kann zwar nicht sprechen, aber ich weiß dennoch, dass er mich vermisst, wenn ich länger fort bin.«
Lauren lehnte sich im Sessel zurück und sah Frost an. »Haben Sie bei Ihren Ermittlungen irgendwelche Fortschritte gemacht?«
Wieder war es Rizzoli, die antwortete. Sie war entschlossen, die Aufmerksamkeit dieser Frau auf sich zu lenken, und es ärgerte sie, dass sie ihr schon wieder entglitten war.
»Wir verfolgen einige neue Spuren.«
»Aber Sie sind doch nicht eigens nach Hyannis gekommen, nur um mir das zu sagen.«
»Nein. Wir sind gekommen, um uns mit Ihnen über einige Punkte zu unterhalten, die wir lieber in einem persönlichen Gespräch klären würden.«
»Und Sie wollten sich ein Bild von uns machen, nehme ich an.«
»Wir wollten uns einen Eindruck von den Verhältnissen verschaffen, in denen Camille aufgewachsen ist. Von ihrer Familie.«
»Bitte sehr.« Lauren machte eine ausladende Geste. »Das ist das Haus, in dem sie aufgewachsen ist. Es ist kaum vorstellbar, dass sie all das aufgegeben hat, um ins Kloster zu gehen, finden Sie nicht? Randall hat ihr alles gegeben, was ein Mädchen sich nur wünschen kann. Einen nagelneuen BMW zum Geburtstag. Ihr eigenes Pony. Einen Schrank voller Kleider, die sie so gut wie nie getragen hat. Stattdessen hat sie sich dafür entschieden, den Rest ihres Lebens in Schwarz herumzulaufen. Sie hat sich dafür entschieden ...« Lauren schüttelte den Kopf. »Wir können es immer noch nicht fassen.«
»Sie waren beide nicht glücklich über ihre Entscheidung?«
»Ach, wissen Sie, ich hatte kein Problem damit. Schließlich ging es um ihr Leben. Aber Randall hat es nie akzeptiert. Er hat immer noch gehofft, dass sie es sich anders überlegen würde. Dass sie es irgendwann satt haben würde, den ganzen Tag nur ... nun ja, das zu tun, was Nonnen eben den ganzen Tag tun, und dass sie dann wieder nach Hause kommen würde.« Sie sah ihren Mann an, der stumm in seinem Bett lag. »Ich glaube, das war es, was seinen Schlaganfall ausgelöst hat. Sie war sein einziges Kind, und er konnte es einfach nicht fassen, dass sie ihn so im Stich gelassen hatte.«
»Was ist mit Camilles leiblicher Mutter, Mrs. Maginnes? Sie sagten mir am Telefon, dass sie nicht mehr lebt.«
»Camille war erst acht, als es passierte.«
»Als was passierte?«
»Nun, es hieß damals ›versehentliche Überdosis‹, aber ist so etwas jemals einfach nur ein Versehen? Randall war schon seit sieben Jahren Witwer, als wir uns kennen lernten. Wir sind wohl so etwas wie eine Patchwork-Familie. Ich habe zwei Söhne aus erster Ehe, und Randall hat Camille mitgebracht.«
»Wie lange sind Sie und Mr. Maginnes verheiratet?«
»Fast sieben Jahre.« Sie sah wieder ihren Mann an. Und fügte in resigniertem Ton hinzu: »In guten wie in schlechten Tagen.«
»Standen Sie und Ihre Stieftochter sich sehr nahe? Hat sie sich Ihnen oft anvertraut?«
»Camille?« Lauren schüttelte den Kopf. »Ich sage es Ihnen ganz ehrlich, wir haben uns nie sonderlich gut verstanden, wenn es das ist, was Sie wissen wollen. Sie war schon dreizehn, als ich Randall kennen lernte, und Sie wissen ja, wie Mädchen in dem Alter sind. Mit Erwachsenen wollen sie nichts zu schaffen haben. Es ist nicht so, als hätte sie mich wie die böse Stiefmutter behandelt, das nicht.
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