Todsünde
standen. An einem kalten Wintertag wie diesem war sie noch nie hier gewesen. Die Hälfte der Restaurants hatte geschlossen, und nur ein paar Unentwegte stapften mit hochgeklapptem Mantelkragen durch die windigen Straßen.
Als Frost in die Ocean Street einbog, murmelte er beeindruckt: »Mensch, guck dir bloß diese protzigen Villen an!«
»Würdest am liebsten gleich einziehen, was?«, fragte Rizzoli.
»Vielleicht, wenn ich meine ersten zehn Millionen auf dem Konto habe.«
»Dann sag Alice, sie soll zusehen, dass sie die erste Million zusammenkriegt – denn mit deinem Gehalt schaffst du das niemals.«
Der Wegbeschreibung folgend, die sie sich auf einem Zettel notiert hatten, bogen sie zwischen zwei Granitsäulen hindurch in einen breiten Zufahrtsweg ein, der sie zu einem stattlichen Haus direkt am Ufer führte. Rizzoli stieg aus und fröstelte im Wind, während sie die vom Salz silbrig glänzenden Schindeln und die drei Türme mit Meerblick bewunderte.
»Kannst du dir vorstellen, dass sie das alles aufgegeben hat, um Nonne zu werden?«
»Ich denke, wenn Gott einen ruft, muss man einfach folgen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Ich würde einfach gar nicht hinhören.«
Sie stiegen die Stufen zur Veranda hinauf, und Frost drückte auf den Klingelknopf.
Kurz darauf öffnete eine kleine, dunkelhaarige Frau die Tür einen Spalt breit und sah sie fragend an.
»Wir haben angerufen«, sagte Rizzoli. »Wir sind vom Boston Police Department und würden gerne Mrs. Maginnes sprechen.«
Die Frau nickte und trat zur Seite, um sie einzulassen.
»Sie ist im Seesalon. Bitte folgen Sie mir.«
Sie gingen über frisch gebohnertes Teakparkett, vorbei an Gemälden, die Schiffe auf stürmischer See zeigten. Rizzoli versuchte sich vorzustellen, wie Camille in diesem Haus aufgewachsen war, wie sie über diese glänzenden Dielen gelaufen war. Aber war sie überhaupt gelaufen? Oder hatte sie nur leise und gesittet zwischen diesen kostbaren Antiquitäten einherschreiten dürfen?
Die Frau führte sie in ein riesiges Zimmer mit Fenstern vom Boden bis zur Decke, die auf das Meer hinausgingen. Der Blick auf die graue, vom Wind aufgewühlte Wasserfläche war so dramatisch, dass Rizzoli wie gebannt hinausstarrte und zunächst gar nichts anderes wahrnahm. Doch bald schon registrierte sie den säuerlichen Geruch, der in der Luft hing. Es stank eindeutig nach Urin.
Als sie sich umsah, erkannte sie, woher der Geruch kam: Ein Mann lag in einem Pflegebett direkt an der Fensterwand. Der Anblick erinnerte an die Installation eines modernen Künstlers. Auf einem Stuhl am Bett saß eine Frau mit rotbraunem Haar, die sich sogleich erhob, um ihre Besucher zu begrüßen. In ihrem Gesicht konnte Rizzoli nichts von Camille erkennen. Camille war von einer zerbrechlichen, fast ätherischen Schönheit gewesen. Diese Frau jedoch war aufwendig geschminkt und gestylt, das Haar zu einem makellosen Helm frisiert, die Augenbrauen sorgfältig gezupft, so dass sie zwei Möwenflügeln glichen.
»Ich bin Lauren Maginnes, Camilles Stiefmutter«, stellte die Frau sich vor und streckte Frost die Hand hin. Gewisse Frauen haben die Neigung, ihre Geschlechtsgenossinnen grundsätzlich zu ignorieren und nur die anwesenden Männer zu beachten, und Lauren Maginnes war eine solche Frau. Sie hatte nur Augen für Barry Frost.
»Hallo«, sagte Rizzoli, »wir haben miteinander telefoniert. Ich bin Detective Rizzoli, und das hier ist Detective Frost. Wir möchten Ihnen unser herzliches Beileid aussprechen.«
Erst jetzt ließ Lauren sich dazu herab, Rizzoli anzusehen. »Danke«, war alles, was sie sagte. Dann wandte sie sich an die dunkelhaarige Frau, die ihnen die Tür geöffnet hatte. »Maria, würdest du bitte den Jungen ausrichten, dass sie herkommen sollen? Die Polizei ist da. – Bitte, nehmen Sie Platz«, forderte sie ihre Besucher auf und deutete auf eine Couch.
Rizzoli kam unmittelbar neben dem Pflegebett zu sitzen. Sie blickte auf die klauenartig verkrampfte Hand, die herabhängende, in einer traurigen Grimasse erstarrte Gesichtshälfte, und sie musste an die letzten Lebensmonate ihres Großvaters denken. Sie sah ihn in seinem Bett im Pflegeheim liegen, sah seine zornig funkelnden Augen, die alles registrierten und doch eingesperrt waren in einem Körper, der seinem Willen nicht mehr gehorchte. Ein ähnlicher Blick begegnete ihr nun in den Augen dieses Mannes. Unverwandt starrte er die unbekannte Besucherin an, und sie las Verzweiflung und Demütigung in
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