Todsünde
Wir haben einfach keinen ... Draht zueinander gefunden, wenn Sie so wollen. Ich habe mich bemüht, das können Sie mir glauben, aber sie war immer so ...« Lauren brach plötzlich ab, als hätte sie Angst, etwas Falsches zu sagen.
»Was ist das Wort, das Ihnen auf der Zunge liegt, Mrs. Maginnes?«
Lauren dachte darüber nach. »Seltsam«, sagte sie schließlich. »Camille war seltsam.« Ihr Blick fiel auf ihren Gatten, der sie durchdringend anstarrte, und sie beeilte sich hinzuzufügen: »Es tut mir Leid, Randall. Ich weiß, es ist schrecklich von mir, so etwas zu sagen, aber diese Herrschaften sind von der Polizei. Sie wollen die Wahrheit hören.«
»Was meinen Sie mit ›seltsam‹?«, fragte Frost.
»Sie kennen das doch sicher: Sie gehen auf eine Party, und da ist diese Person, die ganz allein irgendwo in der Ecke steht«, erwiderte Lauren. »Die Ihnen nicht in die Augen schaut. So war sie – hat sich immer in irgendeine Ecke verzogen oder in ihrem Zimmer verschanzt. Wir haben ja nicht ahnen können, was sie dort oben die ganze Zeit machte. Gebetet hat sie! Am Boden gekniet und gebetet. Und diese Bücher gelesen, die sie von einer katholischen Schulkameradin bekommen hatte. Dabei sind wir gar nicht katholisch, wir sind Presbyterianer. Aber das war ihr egal; sie hat sich in ihrem Zimmer eingesperrt. Hat sich mit einem Gürtel geschlagen, können Sie sich das vorstellen? Als Buße für ihre Sünden. Wie kommt man nur auf solche Ideen?«
Der Wind wehte einen Schwall Salzwasser gegen die Scheiben. Randall Maginnes stöhnte leise. Rizzoli sah, dass seine Augen auf sie gerichtet waren. Während sie seinen Blick erwiderte, fragte sie sich, wie viel von ihrem Gespräch er verstanden hatte. Alles mitzubekommen, ohne selbst eingreifen zu können, wäre wohl die höchste Qual. Alles zu registrieren, was um ihn herum vorging. Zu wissen, dass seine eigene Tochter, sein einziges leibliches Kind, tot war. Zu wissen, dass seine Frau es als eine Last empfand, ihn pflegen zu müssen. Zu wissen, dass der üble Geruch, den er einzuatmen gezwungen war, von ihm selbst kam.
Hinter sich hörte sie Schritte. Sie drehte sich um und sah zwei junge Männer das Zimmer betreten. Sie waren auf den ersten Blick als Laurens Söhne zu erkennen. Die gleiche rotbraune Haarfarbe, die gleichen ebenmäßigen Gesichtszüge. Obwohl sie leger gekleidet waren – beide trugen Jeans und Pullover –, strahlten sie eine ähnlich selbstbewusste Vornehmheit aus wie ihre Mutter. Zwei Rassepferde, dachte Rizzoli.
Sie begrüßte beide mit einem kräftigen Händedruck, darauf bedacht, von Anfang an ihre Autorität unter Beweis zu stellen. »Ich bin Detective Rizzoli«, sagte sie.
»Meine Söhne Blake und Justin«, stellte Lauren vor. »Sie verbringen ihre Collegeferien zu Hause.«
Meine Söhne hatte sie gesagt. Nicht unsere. In dieser Patchwork-Familie waren die Nähte noch deutlich zu erkennen. Auch nach sieben Jahren Ehe waren ihre Söhne immer noch ihre eigenen, und Randalls Tochter war sein Kind.
»Die beiden sind die angehenden Rechtsanwälte in der Familie«, erklärte Lauren. »Bei den Streitereien, die in diesem Haus regelmäßig am Esstisch ausgetragen werden, haben sie schon ausgiebig für ihre Karriere im Gerichtssaal üben können.«
»Diskussionen, Mama«, verbesserte Blake sie. »Wir sagen ›Diskussionen‹ dazu.«
»Der Unterschied ist mir manchmal nicht so ganz klar.«
Die Jungen nahmen mit geschmeidigen, athletischen Bewegungen Platz und sahen Rizzoli an, als warteten sie auf den Beginn der Show.
»Sie gehen also beide aufs College, ja?«, sagte sie. »Und wo?«
»Ich bin in Amherst«, antwortete Blake, »und Justin in Bowdoin.«
Beides nur eine kurze Autofahrt von Boston entfernt.
»Und Sie wollen Rechtsanwälte werden? Alle beide?«
»Ich habe schon bei mehreren juristischen Fakultäten meine Bewerbung eingereicht«, sagte Blake. »Wahrscheinlich werde ich mich auf Medienrecht spezialisieren. Vielleicht gehe ich später nach Kalifornien. Ich will im Nebenfach Filmwissenschaft studieren – damit sollte ich ganz gute Chancen haben.«
»Ja, und er will auch möglichst viele hübsche Schauspielerinnen kennen lernen«, meinte Justin. Für diese Bemerkung wurde er mit einem spielerischen Boxhieb in die Rippen bestraft. »Stimmt doch, Mann!«
Rizzoli wunderte sich über dieses Brüderpaar, das so ausgelassen herumalbern konnte, während die Leiche ihrer kürzlich verstorbenen Stiefschwester noch in der Gerichtsmedizin
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