Todtsteltzers Ehre
Kollegen zusammen und starrten unglücklich auf zwei
Holzkisten, die vor ihnen auf dem Boden standen. Die Kisten
machten einen ganz normalen Eindruck, aber die Ratsherren
bedachten sie mit Blicken, als erwarteten sie, jeden Augenblick
könne ein Grendel daraus hervorspringen. Daß sie Ohnesorg
und Ruby mit erkennbarer Erleichterung empfinden, das war
schon ein gutes Maß für ihre Nervosität. De Lisle tupfte sich
die schwitzende Stirn mit einem Taschentuch ab und deutete
auf die Kisten, wobei seine Hand nicht ganz so ruhig war, wie
sie hätte sein können.
»Die haben schon auf uns gewartet, als wir heute morgen zur
Arbeit kamen. Eine höfliche kleine Notiz war beigelegt, die sie
als Kleines Geschenk von Shub auswies. Nichts weiter. Wir
haben keine Ahnung, wie sie hereingebracht worden sein könnten. Ich kann mir nur denken, daß es unter meinen Leuten Verräter gibt, Sympathisanten der Aufständischen. Wir haben uns
nicht getraut, die Kisten zu öffnen. Sie geben bedrohliche Geräusche von sich, wenn man sie anfaßt. Sie machen gleichermaßen bedrohliche Geräusche, wenn wir Anstalten treffen, uns
zu entfernen. Wir sind jetzt seit fast einer Stunde mit ihnen hier
in der Falle.«
»Typische Terrortaktik von Shub «, meinte Ruby und musterte die Kisten interessiert. »Habt ihr versucht, den Inhalt mit
Sensoren abzutasten?«
»Ja. Die Kisten sind anscheinend mit einem Stoff ausgelegt,
den die Sensoren nicht durchdringen.«
»Womöglich Bomben«, überlegte Ruby, hockte sich vor die
nächststehende Kiste und nahm den Deckel mit professionellem Blick in Augenschein. »Kein Schloß, keine Klammern,
keine erkennbaren elektronischen Abwehreinrichtungen. Vielleicht sowas wie eine Warnung. Ich schlage vor, sie zu öffnen
und mal zu sehen, was passiert.«
»Klingt für mich nach einem guten Plan«, sagte Ohnesorg.
»Ruby und ich überleben eine Bombe wahrscheinlich sowieso.
Aber für alle Fälle schlage ich vor, daß Ihr Ratsherren Euch an
die Wand gegenüber zurückzieht.«
Die Ratsherren folgten diesem Vorschlag eilig und machten
sich nicht die Mühe, ihre Würde mitzunehmen. Ohnesorg
hockte sich neben Ruby.
»Ich denke nicht, daß wir es hier mit einer Sprengfalle zu tun
haben«, sagte er nachdenklich. »Ansonsten hätte sich der Absender nicht die Mühe mit zwei Kisten gemacht. Eine hätte
gereicht für eine Bombe oder eine andere Terrorwaffe.«
»Vielleicht stecken eine Art von Furien darin«, überlegte
Ruby stirnrunzelnd. »Die Kisten sind groß genug für kleinere
Versionen davon. Aber wieso die Mühe mit Mordmaschinen,
wenn eine Bombe genauso effektiv wäre?« Sie sah Ohnesorg
an und lächelte. »Sollen wir ausknobeln, wer von uns die erste
Kiste öffnet?«
»Ich öffne die erste Kiste«, sagte Ohnesorg. »Du mogelst
immer.«
Er packte den Deckel der ersten Kiste mit festem Griff und
riß ihn auf. Ein Schwall eiskalter Luft stieg auf, und Ohnesorg
und Ruby wichen rasch zurück. Die Kiste rührte sich jedoch
nicht weiter. Vorsichtig traten sie heran und blickten hinein.
Ein totes, ganz weißes Gesicht, mit Frost gesprenkelt, blickte
zu ihnen herauf. Auch die offenen Augen waren von Reif überzogen. Ohnesorg und Ruby musterten einander und wandten
sich wieder dem Inhalt der Kiste zu. Es war eine Menschenleiche, hineingerollt wie eine Schlange. Sie war vom Hals bis zu
den Lenden aufgeschnitten, und Brust und Unterleib wirkten
merkwürdig … flach. Ruby zog eine Braue hoch.
»Was immer ich erwartet habe, das jedenfalls nicht. Jemand,
den du kennst?«
»Ich denke, nein. Warum sollte Shub uns einen Toten schikken? Und noch dazu einen sorgfältig konservierten?«
»Aber warum in dieser Weise arrangiert? Wieso haben sie
nicht einfach eine größere Kiste benutzt?« Ruby griff hinein
und packte eine Handvoll Haare des Toten. Sie versuchte, ihn
herauszuziehen, aber die Leiche gab kaum nach, war teilweise
an den Innenseiten festgefroren. Die froststarren Gewebe dehnten sich unter dem Zug mit lauten, knackenden Geräuschen.
Der lange Unterleibsschnitt öffnete sich langsam wie ein
Mund, und erst jetzt entdeckten Ohnesorg und Ruby, daß die
Leiche vollständig ausgeweidet war. Aus Brust und Bauch war
alles entfernt.
»Der Schnitt ist präzise, wie mit dem Skalpell gezogen«, sagte Ohnesorg nachdenklich, und Ruby ließ das Haar los. Der
Kopf fiel mit einem lauten, dumpfen Aufprall in die Kiste zurück. Ruby nahm die eigene Hand in Augenschein. Sie war fast
ganz mit Reif
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