Todtstelzers Schicksal
Erwachen. Die wenigen, ganz wenigen Menschen,
die überhaupt vom Untergeist wissen, fragen sich vielleicht, ob
es sich bei diesen Dingen um die natürlichen Raubtiere dieses
Ortes handelt. Oder sind es eher nach außen projizierte Manifestationen der geistigen Verfassung – von Selbstabscheu erfüllte, depressive, mörderische Wahnideen?
Diana wusste es nicht. Sie hatte den Untergeist gerade häufig
genug besucht, um zu wissen, dass er zu groß und zu vielschichtig für das Wachbewusstsein war, außer in ganz kleiner
Dosierung. Wir könnten alle wie Sonnen leuchten, aber Sonnen
brennen heiß und schmelzen die Flügel derjenigen, die ihnen
zu nahe kommen. Diana entschied, dass ihre Gedanken allmählich außer Kontrolle gerieten, und beherrschte sich angestrengt.
Im Meer der Träume kann auch der vagste Gedanke Auswirkungen haben. Sie zwang sich zur Konzentration und sah sich
nach Feinden um. Sie stand hier vor dem kollektiven Unbewussten der Menschheit, aber auch andere konnten hierherkommen. Als ob sie auf irgendeine seltsame Art hier hin gehörten. Hoch oben am jetzt farblosen Himmel hing eine graue,
wachsame Gegenwart. Das waren die abtrünnigen KIs von Shub . Sie verfügten über kein Unterbewusstsein, aber schiere
mentale Kraft öffnete ihnen ein Fenster in den Untergeist,
durch das sie zusahen und grübelten und doch nicht verstanden. Shub träumte nicht. Ein silbriger Mond stand am Himmel, der
nur schwach im eigenen Licht schimmerte und sich im Wasser
spiegelte – das kollektive Denken der Hadenmänner. Auch sie
verstanden den Untergeist nicht, aber all ihre Wissenschaft
reichte nicht, sie vom Träumen abzuhalten.
Der bösartigste Eindruck von allen war eine Sonne am Himmel des Untergeistes. Eine schwarze Sonne. Sie stand für die
Neugeschaffenen. Diana hatte keine Ahnung, was sie hier taten, aber der bloße Anblick der schwarzen Sonne machte ihr
eine Scheißangst, also war sie vernünftig genug, nicht weiter
hinzusehen. Vielmehr blickte sie über ihre kleine Insel hinweg,
ihren Fels der Gewissheit, und sah, wie sich die Luft vor ihr
kräuselte, ähnlich einem Hitzeschleier. Besucher kamen.
Und innerhalb eines Augenblicks trafen sie ein. Bei den meisten Menschen galten sie als die Führungsgestalten der EsperBewegung, aber tatsächlich handelte es sich um Archetypen,
hervorgebracht vom kollektiven Unbewussten der Esper. Ein
Wasserfall bildete sich, der endlos aus dem Nichts hervorrauschte und zwei große schattige Stellen zeigte, die vielleicht
Augen waren. Ein wirbelndes Mandala aus nicht harmonierenden Farben hing frei in der Luft, und es wuchs in einem fort
und verschlang sich dabei selbst wieder: Ein sieben Meter langer Drache wickelte seine schuppige Gestalt um einen Baum.
Eine muskulöse Menschengestalt, nackt und übertrieben ausgebildet, gemeinhin als Mister Perfekt bekannt. Ein riesiges
Schwein mit blutigen Hauern und winzigen blutroten Augen,
bedeckt mit Tätowierungen in Gestalt altertümlicher Runen
und Siegel. Eine drei Meter große Frau, eingewickelt in
schimmerndes Licht, mit einem kraterübersäten Mond anstelle
eines Gesichts. Alle waren sie Aspekte der Mater Mundi und
hatten Form und Gestalt erhalten, um über die Esper zu herrschen.
»Du hättest nicht herkommen dürfen«, sagten sie, und ihre
Münder, wo immer sie waren, bewegten sich dabei im Gleichklang. Eine einzelne Absicht in einem Chor von Stimmen.
»Dies ist unsere Stätte, wo wir am stärksten sind, während du
allein dastehst. Du musst sterben, damit wir leben. Wir haben
dich stärker gemacht, als unsere Absicht war, aber hier und
jetzt werden wir diesen Fehler ungeschehen machen. Wir sind
die dunklen, tiefen Gedanken der Esper, und die Zukunft ist
unser.«
»Nicht unbedingt«, sagte Diana Vertue, oder vielleicht war es
auch Johana Wahn. »Prüfen wir doch mal, ob ich in diesem
Kampf wirklich allein dastehe.«
Sie setzte einen Fuß über den Rand der Insel hinaus und
schob die Schuhspitze ins Wasser. Wellen breiteten sich langsam auf dem Ozean aus, ähnlich denen, die ein Stein erzeugte,
den man in einen Teich warf. Die Geschwindigkeit der Wellen
nahm zu, bis sie förmlich über das Meer der Träume dahinschossen, und es wurden ständig mehr. Die Archetypen der Mater Mundi bewegten sich lautlos. Ein Gefühl von Druck,
wie von einer Ankündigung, breitete sich in der Luft aus. Und
plötzlich war Diana nicht mehr allein. Angelockt von ihrem
lautlosen Hilferuf, mit einer Stimme, die in den
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