Todtstelzers Schicksal
Blutläufer tanzten unaufhörlich weiter. Der Schweiß
tropfte ihnen von den Gesichtern, und die nackten Füße
klatschten immer heftiger auf den unnachgiebigen Steinboden.
Hazel verlor jedes Gefühl für die Zeit, hatte keinen Maßstab
mehr für ihren Ablauf. Endlich blieben die Blutläufer jedoch
ganz abrupt stehen und stampften alle gleichzeitig mit einem
letzten Schritt auf – als wäre die ungehörte Musik einfach abgebrochen. Eine ganze Weile standen sie nur da und atmeten
schwer, ohne sich gegenseitig anzublicken; dann wandten sie
sich wie ein Mann um und verneigten sich vor dem Stein. Anschließend lösten sie sich zu kleinen Gruppen auf, die sich
murmelnd unterhielten, zu leise, als dass Hazel hätte mithören
können. Es klang wie das ferne Rauschen des Meeres, das fortlaufend stieg und fiel. Die größte Gruppe hatte sich um Scour
gebildet, und schließlich orientierten sich alle anderen Gruppen
zu seiner hin. Er blickte sich kalt um, fast höhnisch, griff dann
unter seine Gewänder und holte einen Gegenstand hervor, der
in knisterndes Pergament verpackt war. Scour wickelte ihn
langsam aus, ließ sich dabei von der intensiven Aufmerksamkeit der anderen nicht zur Eile antreiben. Zutage trat eine abgetrennte Menschenhand, uralt und mumifiziert. Die Finger endeten in Kerzendochten. Scour sprach ein paar leise Worte, und
die Dochte entflammten und brannten mit blassblauen Flammen. Hazel schnitt eine Grimasse. Sie hatte auf Nebelwelt schon solche Dinge gesehen, wo man sie Hände des Ruhms nannte. Es handelte sich um die abgetrennten Hände Gehängter, und die Abergläubischen behaupteten, man könne damit
verborgene Türen öffnen, verlorene Schätze entdecken und
Geheimnisse in den Köpfen der Toten offenbaren. Wie es hieß,
waren die für die Herstellung benötigten Künste sehr unangenehmer Natur.
Scour schritt auf den Sommerstein zu und streckte die brennende Hand des Ruhms zu ihm aus. Hazel verspürte einen
plötzlichen Ruck, zugleich in ihr wie außerhalb von ihr, und
auf einmal war der Stein nicht mehr nur ein Stein. Ohne sich zu
bewegen oder in irgendeiner Form zu verändern, wirkte der
Sommerstein wirklicher, stärker präsent , realer als irgendetwas
oder irgendjemand auf der weiten Steinebene. Hazel spürte ein
langsames, lautloses Pochen in der Luft, wie der Herzschlag
von etwas unmöglich Riesigem in unmöglich weiter Entfernung, aber gleichzeitig so nahe, dass sie das Gefühl hatte, sie
brauchte nur die Hand auszustrecken, um es anzufassen. Das
Pochen erzeugte Echos in ihren Knochen und
Körperflüssigkeiten, und etwas in ihr reagierte darauf wie auf
die Klänge eines alten Liedes, das ihr seit eh und je vertraut
war. Die Präsenz des aufrechten Steins wurde stärker, als wäre
er das einzige Licht und als wären die Umstehenden nur
Schatten, die er warf. Die Blutläufer erstarrten jeder an Ort und
Stelle und atmeten perfekt synchron, während ihre Augen am
Sommerstein hingen, ohne zu blinzeln. Hazel stöhnte leise, als
so etwas wie Schmerz in ihrem Kopf pochte, dem Rhythmus
des lautlosen Herzschlages folgend. Sie spürte, wie sich ihr
Bewusstsein veränderte und sich ihre Gedanken entwirrten …
als erwachte schließlich etwas, das schon immer in ihr
vorhanden gewesen war. Eine große Wahrheit wollte ihr
offenbar werden, wie ein Name, der ihr auf der Zungenspitze
lag. Und dann blies Scour die Kerzen an den Fingern der Hand
des Ruhms aus; die Wirklichkeit fiel in ihren Normalzustand
zurück, und der Stein war wieder nur ein Stein. Die Blutläufer
rührten sich, als erwachten sie widerstrebend aus einem gemeinsamen Traum. Einige von ihnen funkelten den Stein an,
andere Hazel, und man konnte nur schwer feststellen, welche
Gruppe stärker beunruhigt wirkte. Scour warf mit finsteren
Blicken um sich.
»Seht Ihr? Der Stein erkennt sie. Er hat auf ihre Gegenwart
reagiert. Falls ich den Vorgang nicht beendet hätte, wer weiß
schon, wie viel Kraft sie aus dem Stein hätte ziehen können?
Wir müssen sie von hier fortbringen, sie vom Stein trennen und
sicher in einem Labor unterbringen, wo wir sie in aller Ruhe
untersuchen können. Zu unser aller Schutz.«
»Logisch«, bestätigte ein neuer Blutläufer, der aus seiner
Gruppe vortrat und sich Scour gegenüberstellte. »Wir alle müssen jedoch Zugang zur Versuchsperson erhalten und Zugriff
auf sämtliche Informationen, die aus ihr gewonnen werden.
Das steht nicht infrage.«
»Wir teilen alle
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