Todtstelzers Schicksal
entspreche.«
»Das bezweifle ich«, stellte Lament fest und blickte sie zum
ersten Mal direkt an, wobei seine Augen so kalt wirkten wie
die Scours. »Nicht in Anbetracht dessen, was wir mit Euch
vorhaben.«
»Was wünscht Ihr, Lament?«, fragte Scour.
»Am Sommerstein hat sich eine Versammlung eingestellt.
Sämtliche Blutläufer. Wir möchten, dass Hazel D’Ark zum
Sommerstein gebracht wird, um zu prüfen, welche Wirkungen
er auf sie hat und sie auf ihn.«
»Das wäre gefährlich«, wandte Scour sofort ein. »Zu viele
unbekannte Größen. Zu viel außerhalb unserer Kontrolle. Was,
wenn sie ihre vollen Kräfte zurückerhielte?«
»Was schon? Sie ist allein, wir dagegen sind viele. Außerdem bewegen wir uns in der Heimstätte unserer Macht. Hier
geschieht nichts ohne unsere Einwilligung. Das wisst Ihr.«
»Stimmt. Sehr schön. Sie geht zum Sommerstein.« Scour
richtete die blutroten Augen auf Hazel, und sie musste sich
gegen die instinktive Regung wehren, einen Schritt zurückzuweichen. »Zumindest musste sich als interessant erweisen, was
Ihr aus dem Sommerstein macht. Und er aus Euch.«
In einer steinernen Halle, die sich in allen Richtungen bis in die
Unendlichkeit zu erstrecken schien, tanzten die Blutläufer. Ihre
langen Gewänder wehten und flatterten, während sie rings um
den gewaltigen stehenden Stein stampften und stolzierten und
Pirouetten drehten. Insgesamt waren es vielleicht hundert, die
sich beim Tanze aufeinander zu- oder voneinander wegbewegten, ohne sich je zu berühren. Mit raschen und selbstbewussten
Schritten und getrieben von einer Kraft, die sie bis an ihre
Grenzen trieb, folgten sie endlosen Takten eines komplizierten
Musters, das Hazel nicht verstehen, geschweige denn aktiv
nachvollziehen konnte. Hazel stand an der Seite, und zwei von
Scours kopflosen Helfern hielten ihre Arme fest. Sie machte
sich nicht die Mühe, ihnen Widerstand zu leisten. Scour und
Lament hatten sich, kaum dass sie eingetroffen waren, dem
Tanze angeschlossen, fast wie gegen den eigenen Willen hineingezogen, und waren jetzt für Hazel nicht mehr zu erkennen
– nur zwei weitere gertenschlanke Albinos, deren bleiche Füße
auf dem grauen Steinboden herumstampften. Keine Musik war
zu hören, lediglich der Rhythmus stampfender Füße und die
schnellen, heftigen Atemzüge der Blutläufer. Sie starrten mit
weiten Augen ins Leere, versunken im Bann irgendeines inneren Liedes, irgendeines zwingenden Sirenenrufes, der nur für
sie hörbar war. Hazel konzentrierte sich auf den riesigen stehenden Stein und rechnete mit der Wirkung, die er schon über
Scours Beschwörungsbild erzeugt hatte, aber zu ihrer Enttäuschung erlebte sie ihn hier nur als Stein. Er sagte ihr nichts.
Menschenarme ragten aus dem Steinfußboden auf und hielten Fackeln in den Händen, die den Raum in der Umgebung
des Steins erhellten. Die Wände waren zu weit entfernt, als
dass man sie hätte erkennen können. Falls überhaupt Wände da
waren. Man hatte das Gefühl, auf einer freien Fläche zu stehen.
Die Decke war hoch oben in Düsterkeit verborgen. Weitere
abgetrennte Köpfe mit freigelegten Gehirnen ruhten auf Sokkeln im Mittelgrund, wie einsatzbereite Lektronenterminals.
Hazel fragte sich, ob das letztlich ihr Schicksal sein sollte,
wenn die Blutläufer erst alles hatten, was sie von ihr wollten,
und ihr schauderte. Hunderte der kopflosen Gestalten bildeten
einen Umfassungskreis mit dem Stein und dem Tanz darin,
jedoch in respektvoller Entfernung. Sie standen völlig bewegungslos, im Augenblick nicht vom Willen ihrer Besitzer angetrieben.
Indem Hazel Scour und Lament zuhörte und sie gelegentlich
auch zum Streiten anstachelte, hatte sie sich eine gewisse Vorstellung davon bilden können, wie die Blutläufer hier lebten.
Sie alle bezogen ihre Kräfte vom Sommerstein, was sie theoretisch gleich machte; um Macht und Einfluss strebten sie deshalb, indem sie ständig wechselnde Partnerschaften eingingen,
Verschwörungen inszenierten und unaufhörlich wachsende
Privatarmeen von Kopflosen aufstellten, um auf der körperlichen Ebene ihren Willen durchzusetzen. Intrigen grassierten
und brachen zuzeiten in den Steinkorridoren zu offenen Konflikten zwischen feindlichen Armeen aus. Der ohnehin schon
prekäre Status quo stand anscheinend kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch, seit Hazel hier war und sich damit die
Möglichkeit anbahnte, Zugriff auf die volle Macht aus dem Labyrinth des Wahnsinns zu erhalten.
Der
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