Todtstelzers Schicksal
weißt ja nicht, was
aus mir geworden ist, zu was ich mich entwickeln musste, um
zu überleben. Ich war einmal ein Mensch wie du. Eine Manifestation der Mater Mundi. Ich hielt mich für den Erwählten, den
Heiligen, den Erlöser der Esper. Und genau wie du war ich
schon verrückt genug, um zu vermeiden, dass mich diese Erfahrung in den Wahnsinn trieb und ich dabei vernichtet wurde.
Ich überlebte, wo doch so viele andere starben. Und wie du
machte ich mich auf die Suche nach Antworten, nach der
Wahrheit hinter dem, das mich berührt und für immer verändert hatte. Ich fand meine Antwort, aber sie machte mich weder
glücklich noch klug. Ich. täuschte meinen eigenen Tod vor und
kam hierher – vor langer, langer Zeit. Und jetzt kann ich nie
mehr fortgehen.
Die wirbelnden Gefühle und tobenden Leidenschaften reichten, um mich zu verbergen, aber nach einer Weile … genügte
mir das nicht mehr. Ich geriet in Versuchung, biss in den süßen
Apfel und fiel aus dem Rest Gnade, in dem ich noch stand. Inzwischen verstecke ich mich hier nicht mehr nur. Ich nähre
mich. Mein Bewusstsein saugt sich satt an den Energien, die
mich umgeben, und ernährt sich von meinen süßen Opfern. Nie
so stark, dass es auffallen würde, aber genug, um mich am Leben zu halten, lange über den Zeitpunkt hinaus, an dem ich
eigentlich hätte sterben sollen. Ich redete mir selbst ein, dass
ich am Leben bleiben musste, dass es meine Pflicht war, auf
jemanden wie dich zu warten, der sich vielleicht als ausreichend stark und tapfer erwies, um sich der Mater Mundi dort
entgegenzustellen, wo ich es nicht gewagt habe. Aber eigentlich hatte ich nur Angst vor dem Tod … und die Speise
schmeckte ach so süß. Mein Name lautet Varnay, und es gibt
ein sehr altes Wort für das, was ich bin.
Er ließ endlich seine Schutzschirme fallen und tauchte vor
Diana auf. Ihr drehte sich der Magen um, und sie schnitt unwillkürlich eine Grimasse und kämpfte gegen den Impuls an,
sich abzuwenden. Varnay war übermenschlich groß, fett und
aufgedunsen, bleich wie eine Leiche, und hatte einen riesigen
feuchten, roten Mund. In seinem Aufzug aus schwarzen Lumpen und Fetzen erinnerte er an nichts so stark als einen enormen, aufgeblähten Blutsauger. Die dunklen Augen waren riesengroß, beherrschten sein Gesicht und blinzelten nie. Er hatte
erkennbare Fäulnisflecken an Gesicht und Händen, und die
Nase war ihm schon vor langer Zeit weggefressen worden und
hatte eine verfärbte Lücke mitten im aufgequollenen Gesicht
hinterlassen. Ein Körper, der eigentlich schon lange hätte tot
sein müssen, erhalten von unnatürlichen Kräften und einem
unmenschlichen Hunger.
Diana fragte sich, ob er wohl in einem Sarg schlief.
»Verdamme mich nicht«, sagte Varnay, und die Stimme
klang aus seinem Mund ebenso abscheulich wie zuvor in Dianas Kopf. »Du hast kein Recht, mich zu verdammen. Nur die
allerkleinste Chance trennt deine Johana Wahn von dem, was
ich aus mir gemacht habe. Ich habe deinen Weg aus der Ferne
verfolgt. Wir beide haben Fragwürdiges getan. Wir beide sind
Monster.«
»Nein«, erwiderte Diana. »Die Mater Mundi ist das wirkliche
Monster. Sie hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Sie trägt
die Verantwortung, und sie muss der Gerechtigkeit zugeführt
werden.«
»Ach, wenn du nur wüsstest!«, sagte Varnay, und seine aufgeblähten Lippen verzogen sich zu etwas, was vielleicht ein
Lächeln sein sollte. »Selbst nach allem, was du in Erfahrung
gebracht hast, bist du noch so weit von der Wahrheit entfernt!«
»Dann sag sie mir!«
»Was nützt die Weisheit, wenn sie dem Weisen keinen Gewinn bringt? Die Wahrheit wird dich nicht glücklich machen,
Diana. Sie wird dich nicht befreien.«
»Sag sie mir trotzdem. Du weißt selbst, dass du es tun wirst.
Ansonsten sind all die Jahre vergebens gewesen, die du dich
hier versteckt hast, um dich … zu dem zu entwickeln, was du
heute bist.«
»Süße Diana, liebe Johana – du suchst so angestrengt an all
den falschen Stellen nach etwas, was schon immer direkt vor
deiner Nase lag. Suche nicht außen nach der Mater Mundi;
blicke nach innen. Ins tiefste Innere. Die Mater Mundi, Unsere
Mutter Aller Seelen, ist nichts weiter als das kollektive Unterbewusstsein aller Esper. Ein unterbewusster Massengeist, der
sich eine eigenständige Existenz neben den individuellen
Denkmustern der Millionen Esper angeeignet hat, die ihm Gestalt verliehen haben. Die Mater Mundi ist spontan entstanden
– in dem
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