Töchter auf Zeit
Wir fuhren durch das Botschaftsviertel, und ich starrte die prächtigen Gebäude an: Botschaften von Peru, Trinidad, Chile. Früher waren Tim und ich nach der Arbeit den ganzen Dupont Circle hinuntergelaufen, um noch einen Drink auf der Terrasse einer Bar zu uns zu nehmen. Doch das hatten wir seit Jahren nicht mehr getan. Nachdem nun feststand, dass wir niemals Eltern werden würden, hätten wir dafür ja jetzt jede Menge Zeit.
»Ich habe die Adoptionsvermittlung heute angerufen«, sagte Tim.
Blitzschnell drehte ich mich zu ihm und warf ihm einen meiner Killerblicke zu. »Weshalb tust du das?«, fragte ich ihn durch zusammengebissene Zähne.
»Weil du es nicht machst. Außerdem weiß ich, dass es richtig ist. Ich handle jetzt. Und das tue ich auch für dich, Helen!«
»Wir haben keine Kinder, Tim, und werden auch keine haben. Und mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich habe mich damit abgefunden, weshalb tust du das nicht auch?«
»Weil es keinen Grund dafür gibt. Da draußen warten Tausende von Babys auf uns.«
»Was macht dich so sicher, dass man uns ein Baby gibt?« Meine Stimme versagte, meine Augen füllten sich mit Tränen. »Woher willst du wissen, dass ich die Tests bestehe? Schau dir doch mal mein Leben an, Tim. Meine Mutter ist gestorben, mein Vater hat mich im Stich gelassen und in Krisenzeiten stehe ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Weshalb in aller Welt sollte sich ein Sozialarbeiter das alles anhören und dann zudem Schluss kommen: ›Na klar, geben wir dieser Verrückten ein Kind.‹«
»Helen«, presste diesmal Tim durch zusammengebissene Zähne. »Und was ist mit unseren Pluspunkten? Wir sind glücklich verheiratet, selbstständig und haben ein eigenes Haus. Wir sind gute Kandidaten für ein Baby.«
»Diese Kinder sind Waisenkinder. Oder sie wurden ausgesetzt. Vielleicht kriegen wir eines, das gar nicht in der Lage ist, Gefühle für uns zu entwickeln.«
»Wie kommst du denn auf so etwas?«
»Du bist nicht der Einzige, der sich im Internet schlau gemacht hat, Tim. Ich habe den Artikel einer Psychologin gelesen, die davon überzeugt ist, dass eine Adoption eine äußerst traumatische Erfahrung für ein Kind ist, von der es sich niemals erholen wird. Niemals. In ihren Augen hinterlässt die Trennung zwischen leiblicher Mutter und Kind eine riesige Leere im Herzen des Babys. Was ist, wenn das stimmt, Tim? Was ist, wenn wir die Wunden dieses Babys niemals heilen können?«
»Mit einer Mutter und einem Vater, die es wie verrückt lieben, bleibt das nicht so, das mit der Leere im Herzen. Dieses Baby wird so sehr geliebt werden, dass es mit einer weißen Fahne winken wird.«
»Was ist, wenn liebende Eltern nicht ausreichen?«
»Das sind immerhin zwei Menschen mehr, als du den größten Teil deiner Kindheit hattest«, meinte Tim und sah mir in die Augen. »Und aus dir ist auch etwas Vernünftiges geworden.«
»Darüber lässt sich streiten«, sagte ich und dachte, dass ich alles andere als in mir ruhte oder meine Mitte wiedergefunden hatte. »Doch selbst, wenn es ihr gut geht bei uns, heißt das ja nicht, dass sie uns nicht doch eines Tages verlassen wird. Vielleicht will sie ja nach China zurück, in ihre Heimat.«
»Sie ist keine Austauschschülerin, Helen. Sie ist unsere Tochter.«
»Trotzdem wird sie uns verlassen. In ihren Adern fließt nicht unser Blut. Vielleicht möchte sie ihre leiblichen Eltern kennenlernen und dort leben.«
»Ist es das, worüber du dir die ganze Zeit Gedanken machst?«, fragte Tim. »Dass sie uns verlässt?«
»Das machen Menschen nun mal«, sagte ich rundheraus. »Rein statistisch gesehen haut jeder irgendwann einmal ab.«
»Da täuschst du dich, Helen. Das macht nicht jeder. Bloß weil dein Vater dich im Stich gelassen hat und deine Mutter gestorben ist, heißt das noch lange nicht, dass das alle Menschen tun. Ich jedenfalls nicht. Und unser neues Baby auch nicht.« Tim zuckte mit den Schultern und drehte die Hände mit den Handflächen nach oben. »Glaubst du mir wenigstens, dass ich bleibe? Ich gehe nicht weg, Helen. Nirgendwohin. Und unsere Tochter bleibt auch bei dir.« Er schüttelte den Kopf. »Musst du wirklich noch mehr wissen?«
»Nein.«
»Niemand verlässt dich«, wiederholte er.
»Egal, was kommt?«
»Egal, was kommt!«
KAPITEL 5
Am nächsten Abend saß ich hinter dem Steuer und fuhr Richtung Arlington. Tim würde erst in ein paar Stunden nach Hause kommen und ich hatte nichts weiter zu tun – außer mich mit den Adoptionspapieren zu
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