Töchter auf Zeit
mich zutraf und dass mich dieses Verharren auf persönliche Art und Weise doch glücklich machte, da ich viel zu viel Angst vor einer ungewissen Zukunft hatte.
»Mir ist es sehr schwergefallen, den Wald vor lauter Bäumen zu erkennen.«
»Aber jetzt konzentriere ich mich auf die Zukunft. Immerhin adoptieren wir ein Baby. Aus China.« Diese Worte laut auszusprechen, fühlte sich noch immer merkwürdig an, so als wüsste ich nicht genau, wie ich sie auszusprechen hätte.
»Das freut mich, Helen«, sagte er und wandte den Blick ab. »Vielleicht kommst du mich ja mal mit ihr besuchen. Ich würde meine Enkeltochter sehr gerne kennenlernen.«
»Vielleicht.« Ich musste ihm zugutehalten, dass er sich so weit geöffnet hatte. »Tschüss dann.« Ich ging aus dem Haus, setzte mich ins Auto und drehte den Zündschlüssel um. Dann fiel mein Blick auf die Uhr. Du meine Güte, es war ja schon fast drei Uhr. Ich musste mich beeilen, wenn ich noch rechtzeitig zu Mauras Lernstunde kommen wollte.
KAPITEL 9
Die drückende Hitze im Juni legte sich auf uns wie eine nasse Wolldecke. Um die Mittagszeit herrschten in der Küche des Harvest unerträgliche Temperaturen, weshalb ich schon immer ganz früh am Morgen anfing zu arbeiten. Ich suchte Rezepte heraus, die zu der hohen Luftfeuchtigkeit und der Schwüle passten. Schließlich wirkte sich das Wetter auf die Brotkruste aus, und wer bitte möchte schon feuchtes, schlabbriges Brot?
Nachmittags traf ich mich des Öfteren mit Claire. Wir saßen dann am Pool und unterhielten uns, während Maura Schwimmunterricht hatte, uns nass spritzte oder mit ihren Freundinnen spielte.
An diesem Tag hatten wir es uns in den Liegestühlen gemütlich gemacht. Maura schwamm direkt vor unseren Augen im Pool. Ihre Schwimmflügel sorgten für genügend Auftrieb, sodass sie mit dem Mund lauter Blasen machte, während sie mit den Beinen Froschbewegungen vollführte.
Wir sahen zwei Teenagern nach, die an uns vorbeiliefen und dabei mit dem Strohhalm ihre Milchshakes mit Sahne schlürften.
»So waren wir als Kinder auch«, sagte ich zu Claire.
»Was meinst du damit?«
»Wir haben gern Restaurant gespielt. Du warst die Köchin, ich die Bedienung. Heiße Schokolade mit Schlagsahne war unser Lieblingsgetränk.«
»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.« Claire zog ihre Augenbrauen hoch. »Haben wir richtiges Essen serviert?«
»Vor allem Thunfischauflauf.«
»Richtig, und obendrauf waren zerkrümelte Kartoffelchips.« Ihr Gesichtsausdruck verriet, wie die Erinnerung langsam in ihr hochstieg.
»Ganz genau.«
»Ich kann mich jetzt zwar erinnern, dass wir den Auflauf gekocht haben, aber wem haben wir ihn denn serviert?«
»Dad.«
»Und bei welchen Gelegenheiten war das? Larry war ja nicht allzu oft da.«
»Als wir noch klein waren, schon. Manchmal hat er abends gearbeitet und den ganzen Tag mit uns verbracht. Bevor er dann zur Arbeit ging, haben wir noch gemeinsam zu Abend gegessen.«
»Das ist schon komisch«, sagte Claire. »Ich habe seit über zwanzig Jahren nicht mehr daran gedacht.«
»So was nennt sich selektive Erinnerung. Larry war ein echter Komiker, damals.«
»Wieso sprichst du so nett über ihn? Es geht immerhin um Larry.«
»So übel war er auch wieder nicht.«
»Mom hat mir ganz sicher nichts von guten Zeiten mit ihm erzählt.«
«Mom war zutiefst verletzt. Kein Wunder, dass sie so über ihn geredet hat. Denkst du nie an ihn?«
»Eigentlich nicht. Das letzte Mal habe ich vor fünf Jahren oder so mit ihm gesprochen. Er ist wegen seiner Arbeit nach Chicago gezogen.«
Er ist wieder da!, wollte ich rufen. Er wohnt in Arlington. Er hat immer noch denselben Buick. Ich war sogar schon in seinem Haus und habe in seinem Wohnzimmer auf der Couch gesessen.
»Glaubst du nicht, er hätte eine zweite Chance verdient?«
»Er hat zu viel kaputt gemacht.«
»Aber er wollte es doch wiedergutmachen. Nach Moms Tod – hat er da nicht versucht, mit uns in Kontakt zu bleiben? Ich kann mich genau erinnern, dass er dann zurückkam.«
»Richtig,
nach
Moms Tod. Aber was war vorher? Er war so überflüssig wie ein Kropf. Du weißt ja nicht einmal die Hälfte von dem, was passiert ist. Es gab damals auch keinen Grund, dich einzuweihen.«
»Was hat er denn getan? Ich meine nicht das, was auf der Hand liegt – dass er uns verlassen hat, obwohl Mom krank war.«
»Kurz bevor sie starb, waren Moms Schmerzen so heftig, dass sie mich angefleht hat, ihr eine Überdosis Morphium zu geben. Sie war schon so
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