Töchter auf Zeit
verletzend und liebte es, in jedem zweiten Satz gotteslästernde Ausdrücke wie Verdammt noch eins oder Jesus Christus! zu benutzen, auch weil ich dieser Gottheit, die sich mit dem Krebs verschworen hatte, mir meine Mutter zu rauben, dieser Gottheit, mit der meine Mutter zu allem Übel auch noch gemeinsame Sache zu machen schien, eins auswischen wollte.
Nachdem Tim aus der Dusche gekommen war, sperrten wir das Haus zu und kuschelten uns im Bett aneinander. Ich zog den Packen Briefe unter dem Bett hervor, den Claire mir gegeben hatte, und schmiegte mich noch enger an Tim.
»Weißt du noch, wo das war?«, fragte ich Tim und zeigte ihm eine Postkarte mit der groben Skizze von Kopfsteinpflasterstraßen, einem Marktplatz und einer riesigen Kirche mittendrin.
»Im Prinzip könnte das jede Stadt in Europa sein.«
»Schon, aber das ist Lyon. Weißt du noch …?«
»Stimmt«, meinte er träumerisch und fing an zu lesen.
Liebe Claire,
ich schreibe Dir aus Lyon, der Welthauptstadt der kulinarischen Genüsse! Ich sitze gerade in einem
bouchon
(einem kleinen Restaurant), lasse mir eine oberleckere
poulardedemi-deuil
(Poularde mit schwarzen Trüffeln) und etwas leckeren Weichkäse mit Kräutern auf einem wahnsinnig knusprigen Baguette schmecken und spüle es mit einem fantastischen Côtes du Rhone hinunter. Einfach göttlich! Ich sehe gerade, dass ich schon zwei Mal etwas von lecker geschrieben habe, aber ehrlich, dieses Essen ist einfach nur LECKER!!!
Ich wünschte, Du könntest auch hier sein. Glaub mir, ich vermisse Dich. Ehrlich! Ich weiß ja, Du eroberst die Welt im
Sturm. Ich schwärme jedem von Dir vor: Diplom-Betriebswirtin, jüngste Senior Investment Managerin bei Goldman Sachs. Mich hat jemand gefragt, ob Du auch in »Arbitrage-Anleihen« machst. Ich antwortete ihm, ich wäre mir nicht sicher. Was bitte sind »Arbitrage-Anleihen«?
Allein das Wort jagt mir Angst ein. Lass die Finger davon, wenn das gefährlich ist.
Wie auch immer, ich seh Dich geradezu vor mir, wie Du in dem für Banker typischen grauen Nadelstreifenanzug, den spitzen Schuhen, die Haare zu einem strengen Dutt zusammengefasst im Büro erscheinst und mit dem Finger schnippst, damit einer Deiner Lakaien Dir einen Latte und das
Wall Street Journal
bringt. Nein, Du kommandierst bestimmt niemanden herum. Das war ein Witz! Haha. Im Ernst, ich glaube, es ist toll, für Dich oder mit Dir zu arbeiten.
Ich hab Dich lieb,
Helen
KAPITEL 8
Am nächsten Morgen buk ich von frühmorgens bis in die Nachtmittagsstunden. Gleich nachdem ich das Harvest verlassen hatte, fuhr ich zu Larry. Es gab da nämlich noch etwas, was ich unbedingt wissen wollte. Ich ging zur Haustür und klopfte, diesmal war ich mir jedoch sicher, dass ich das auch wirklich tun wollte. Dieses Gefühl hätte ich auch am Vortag gut gebrauchen können … Er öffnete sofort und trug dieselben Klamotten: Jeans und Green-Bay-Sweatshirt.
»Zwei Besuche in nur vierundzwanzig Stunden«, stellt er lächelnd fest.
»Darf ich reinkommen?«
»Aber sicher«, meinte er, trat einen Schritt zurück und bedeutete mir einzutreten. »Du siehst aus, als hättest du etwas auf dem Herzen.«
»Nur eine Frage. Ich muss verstehen, warum. Nicht, warum du Mom verlassen hast. Dafür sind mir ein paar Gründe eingefallen. Ich weiß, dass sich Ehepaare auseinanderleben. Aber weshalb hast du Claire und mich verlassen?«
Larry fuhr der Schreck in die Glieder. Er verlagerte sein Gewicht und ging wieder zu dem Polstersessel in der Ecke des Zimmers. Ich setzte mich an den Rand der Couch.
Er hielt seine Augen gesenkt und schluckte. Schluckte erneut. »Als ihr beide noch klein wart, hatten wir so viel Spaß miteinander.« Er stützte das Kinn in die Hand und schauderte, als ob die Erinnerung in ihm zum Leben erwachte. »Wir zwei haben oft Verstecken gespielt. Mittags gab es meistens ein Eis. Ich bin mit dir am Boden herumgekrabbelt und habe im Wohnzimmer ein Zelt gebaut. Wir haben sogar unser eigenes Fort gehabt. Doch eines Tages hat euch das nicht mehr gefallen.«
»Ich war damals vierzehn. Mir hat gar nichts gefallen.«
Larry grinste und reckte das Kinn nach oben.
»Wir wurden langsam, aber sicher erwachsen.«
»Da hast du recht. Du hast dich immer in dein Zimmer gesperrt und Claire ging ja schon aufs College und hat gearbeitet. Keine von euch hatte etwas mit eurem alten Dad zu besprechen. Wenn ich euch etwas gefragte habe, habt ihr mich nur angesehen, als hätte ich zwei Köpfe. Wozu brauchen Teenager
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