Töchter auf Zeit
Ungeduld und gespannte Erwartung. Wir würden uns zwar brav daran halten, aber so richtig genießen würde es wohl niemand von uns können.
Dann sammelte Max unsere Spenden für das Waisenheim ein, um das Geld in den Hotelsafe zu legen. Ich war mehr als erleichtert, das dicke Geldbündel endlich loszuwerden, das ich in einem Geldgürtel unter meiner Bluse trug.
Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Bus zur chinesischen Mauer.
»Wollen wir ein bisschen klettern?«, meinte Tim begeistert. Es war ein frostiger Tag im Dezember und wir waren dick in unsere Goretex-Jacken eingepackt, trugen Mütze und Handschuhe, aber ich fror trotzdem. Ich hielt mir die dampfende Tasse Tee erst an die Lippen und genoss es, wie der heiße Dampf um meine Lippen waberte.
»Wie weit?«, wollte ich wissen. Die Mauer kam mir endlos vor und ich musste an einen Drachen denken, der sich endlos windet.
»So weit wir können«, lautete Tims Antwort. Dann packte er meine Hand und zog mich zum Eingang.
Die vermeintlichen Treppen entpuppten sich als kniehohe Steinplatten, die nur mit Riesenschritten zu überwältigen waren. Nach etwa fünfzig dieser Ausfallschritte war ich außer Puste, mir war heiß und ich zog meine Mütze und Handschuhe aus. Doch jedes Mal, wenn ich den Blick hob und die saftig grünen Berge betrachtete und kurz zusah, wie die tiefroten Flaggen im Wind wehten, fühlte ich mich energiegeladen, lebendig.
Als wir den ersten Wachturm erreichten, fühlte ich mich unbesiegbar, in meinen Adern schien Adrenalin pur zu fließen. Wir legten eine kurze Rast ein und lehnten uns an diesesbeeindruckende Bauwerk. Unsere Wangen glühten vor lauter Kälte und aufgrund der Anstrengung.
»Wir sind in China!«, brüllte ich, als wäre mir diese Erkenntnis gerade erst gekommen.
»Das ist so cool«, pflichtete Tim mir bei.
»Ich muss Claire anrufen«, sagte ich und zog das Handy aus meiner Tasche, das ich erst hier vor Ort erstanden hatte, und wählte ihre Nummer. Es war mitten in der Nacht, genauer gesagt war es in Amerika noch gestern. Trotzdem ging Claire ans Telefon.
»Wir stehen hier an der chinesischen Mauer!«, meldete ich mich.
»Wo ist meine Nichte?«, wollte Claire wissen und gähnte lauthals.
»Wir haben sie noch nicht bekommen. Nicht vor Montag, hieß es. Aber sie ist bestimmt schon ganz aufgeregt. Vermutlich hat sie ihren Koffer schon gepackt und neben ihr Bettchen gestellt.«
»Vermutlich geben sie ihr zu Ehren eine Abschiedsparty.«
»Worauf du wetten kannst. Mit Luftballons, Kuchen und jeder Menge Eis.«
»Sie bekommt bestimmt einen gravierten Füller von Mont Blanc geschenkt.«
»Und einen Gutschein für Starbucks.«
»Denk an den Postnachsendeantrag!«, lachte Claire. »Vielleicht meldet sich ja mal ein entfernter Verwandter und will sie besuchen kommen.«
Oh je
, dachte ich.
Verwandte
. Natürlich hatte ich mir jede Menge Gedanken über Sams leibliche Mutter und ein paar auch über ihren Vater gemacht. Doch mir war nie in den Sinn gekommen, dass ich vorhatte, ein Baby mit einer eigenen Geschichte zu adoptieren, einer jahrtausendealten Familiengeschichte. Sam hatte wie jeder andere Mensch auch Tanten, Onkel, Cousins,Großeltern, Urgroßeltern aus jeder Epoche. Und nun adoptierte ich sie und schnitt damit jegliche Verbindung zu ihren Vorfahren unwiderruflich ab. Durch die Adoption verhinderte ich, dass Sam jemals ihre Schwester, Mutter oder Tante würde fragen können: »In unserer Familie leidet wohl jeder an Bluthochdruck, oder? Und Tante Mae bekam immer ganz schlecht Luft, nicht wahr? Ist Oma Wu nicht an Herzversagen gestorben?« So viele Babys, die keine Antwort auf Fragen wie diese bekämen:
Von wem habe ich eigentlich meinen schwarzen Humor, mein sportliches Talent, meine Begabung zum Schreiben oder meine Begeisterung für Kunst?
So viele Babys, die einen Neuanfang machen mussten, ganz gleich, ob sie das wollten oder nicht.
Nach unserem Extremsport auf der chinesischen Mauer spazierten Tim und ich durch das Dorf. Zufällig landeten wir in einem kleinen Kunstgewerbeladen, in dem ein Mann Schriftrollen kalligrafierte. Mit unglaublicher Fingerfertigkeit und enormem Geschick schrieb er Sams chinesischen Namen für uns – Xu, Long Ling. Dann baten wir ihn, auch Mauras Namen in chinesischer Zeichenschrift aufzuschreiben. Zu guter Letzt wollte ich noch wissen, was »Cousine« auf Chinesisch heißt. In gebrochenem Englisch erklärte er uns, dass die verwandtschaftlichen Verhältnisse in der chinesischen Kultur eine
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