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Töchter auf Zeit

Töchter auf Zeit

Titel: Töchter auf Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Handford
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ausgehändigt hatten, hatten wir ihnen ein paar Kleinigkeiten aus der Hauptstadt Amerikas mitgebracht.
    Mit jeder Minute, die verstrich, spürte ich, wie mein Magen Säure ohne Ende produzierte.
    Tim knabberte an einem der restlichen Muffins, während ich mir Kautabletten gegen Magendrücken und Reflux in den Mund schob.
    »Wann ruft Max endlich an?«, quengelte ich.
    »Schon bald«, beruhigte mich Tim. »Wir müssen einfach nur abwarten, bis wir an der Reihe sind.«
    »Darauf warte ich schon seit fünf Jahren.«
    »Er ruft gleich an, glaub mir«, versuchte Tim mich zu beruhigen.
    Dann schellte das Telefon, und wir beide sprangen gleichzeitig auf.
    Tim hob ab und legte nach einem kurzen Gespräch auf. Dann nickt er mir zu. »Sie warten auf uns.«
    Tim und ich hielten uns so fest an der Hand, als wir uns auf den Weg in Zimmer 304 machten, dass es schon beinahe wehtat.
    »O mein Gott«, wiederholte ich wieder und wieder und drückte Tims Hand noch stärker. Mein Herz klopfte wie verrückt.
    »Schon gut«, murmelte er und sah jungenhafter aus denn je.
    Max öffnete die Tür. Im Raum standen eine junge Frau, die ein Baby auf dem Arm hielt, und eine ältere Frau neben dem Schreibtisch in der hinteren Ecke des Zimmers. Sam, ihre Pflegerin und die Direktorin, nahm ich an. Sam sah uns kurz an, dann ihre Pflegerin und griff dann trotzig nach deren Halskette. Das Sonnenlicht auf Sams rasiertem Kopf kam mir wie ein Heiligenschein vor.
    Sie war klein und obwohl sie fest in mehrere Schichten verpackt worden war, konnte man sehen, wie zart sie war. Die anderen Babys waren im Vergleich zu ihr feiste Pummelchen; Samsah aus, als ob sie von einem anderen Stern käme, so zerbrechlich und schutzbedürftig. Als sie die Lippen schürzte, kam das Grübchen in ihrer Wange zum Vorschein, das Grübchen, das ich den ganzen letzten Monat angestarrt hatte – mein Bildschirmschoner und mein Seelenheil.
    In ihrer linken Hand hielt sie ein Stück Satin, das wohl von einer weichen Überdecke abgerissen worden war. Stammte das Stückchen Stoff aus dem Waisenhaus oder von ihrer Mutter? Wenn ja, roch es noch nach ihr?
    »Sam«, flüsterte ich und ging mit ausgestreckten Armen auf sie zu, Tränen strömten mir über das Gesicht. Die Pflegerin drückte sie mir in den Arm, obwohl meine Hände wie verrückt zitterten. Das Gefühl, sie nach so langer Zeit endlich anfassen zu können, raubte mir den Atem. Als ich noch klein war, hatte Claire mir einmal einen Volleyball zugeworfen und mich mitten auf der Brust getroffen. Ich bekam kurze Zeit tatsächlich keine Luft mehr. »Ich dachte, du wärst so weit«, hatte Claire sich entschuldigt. Genauso fühlte ich mich jetzt auch. Ich dachte, ich wäre so weit, aber die Panik, die ich jetzt verspürte, teilte mir etwas ganz anderes mit. Ein metallener Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. Ich sah mich nach Tim um, aber der stand in einer Ecke und sprach mit der Direktorin.
    »Hallo, mein kleines Mädchen«, sagte ich und strich ihr zart über ihre Apfelbäckchen, bemüht, so zuversichtlich wie Claire zu sein. Ich wollte es dem kleinen Bündel auf meinem Arm so angenehm wie möglich machen und hoffte, sie beruhigen zu können. Ganz sicher würde ich sie beruhigen können. Doch Sam ballte ihre Händchen zur Faust, schlug nach mir und sah unglücklich zu ihrer Pflegerin. Ich hatte noch nie ein so unglückliches Kind gesehen. Ich spielte mit meiner Halskette, um sie abzulenken, aber es funktionierte nicht. Sie wollte einen vertrauten Menschen um sich haben, und das war definitiv nicht ich. Plötzlich fühlte ich mich wie eine Betrügerin,als ob ich etwas – jemanden – an mich reißen würde, was mir nicht zustand.
    Uns hatte man erzählt, dass die göttliche Weisheit der »Kupplerinnen« entscheiden würde, welches Baby zu welchen Adoptiveltern käme. Gut möglich, dass ältere Damen in einem Zimmer saßen, die Bewerbungen der künftigen Eltern studierten und dann das passende Baby auswählten. Vermutlich war diese Geschichte aber frei erfunden. Viel wahrscheinlicher war es, dass Computer diese Entscheidung trafen, die unerlässlicher Teil des bürokratischen Monsters waren, zu dem sich Adoptionen in China entwickelt hatten. Mir aber gefiel die Vorstellung, dass mein Schicksal in den Händen von weisen Frauen lag, viel besser. Die Gewissheit zu haben, dass ehrenwerte ältere Ladys mit der Erfahrung eines ganzen Lebens meine Tochter für mich ausgewählt hatten, hatte etwas Tröstliches für mich.
    Dann

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