Töchter auf Zeit
Tochter adoptiert, und sie zeigte ein Übermaß an sogenannter ›Selbstberuhigung‹. Sie lutschte exzessiv an ihrer Hand. Als unsere Freunde sie zum ersten Mal sahen, hatte sie eine fünf Zentimeter breite offene Wunde unterhalb ihres Daumens, weil sie ihn sich gewohnheitsmäßig in den Mund steckte und daran nuckelte.«
»Was ist mit ihr geschehen?«, wollte ich ängstlich wissen. Mit einem Mal schmeckte ich nur noch den Kunststoff, aber keinen Chardonnay mehr.
»Nichts weiter«, meinte Amy beiläufig. »Ihr geht es jetzt gut. Nach einer Weile haben die meisten Babys ihre Verhaltensstörungen überwunden.«
»Hatten Sie auch solche Probleme mit Angela?«, fragte ich zögerlich, da ich mir nicht sicher wahr, ob ich die Antwort überhaupt hören wollte.
»Ja klar«, antwortete Amy ohne Zögern. »Aber Angela hat sich zum Glück relativ schnell auf uns eingelassen und eine Bindung zu uns entwickelt. Und das ist doch das Allerwichtigste. Es gab aber eine lange Zeit, da hatten wir Angst, sie hätte eine Zwangsstörung. Wasser in den Augen zum Beispiel konnte sie partout nicht leiden. Deshalb habe ich ihr immer eine Taucherbrille aufgesetzt, wenn ich ihr die Haare gewaschen habe. Kalte Milch hat sie verweigert, weil sie die Wassertröpfchen außen am Glas nicht mochte. Dosenobst war ihr zu glitschig. Und Tortillachips waren ihr zu hart.«
»Und wie ist das jetzt?«
»Mittlerweile ist sie ein tolles Kind. Es gibt immer noch ein paar Dinge, die sie nicht besonders mag, aber sie hat gelernt, im Alltag damit klarzukommen. Sie isst die ganze Zeit Chips und Fruchtschalen. Aber sie hat auch ihre Eigenheiten. Erst neulich hat sie an jedem Orientteppich die Fransen gerade hingelegt – in einer perfekten Reihe.«
»Zumindest trägt sie ihren Teil zur Hausarbeit bei«, witzelte ich.
»Da haben Sie recht!«, grinste Amy. »Doch die gute Nachricht lautet, dass die meisten dieser Kinder – traumatisierte Heimkinder – ihre Verhaltensauffälligkeiten ablegen.«
Traumatisiertes Heimkind
. Noch ein Eintrag in mein Glossar.
»Okay! Damit ist es offiziell: Sie haben mich soeben zu Tode erschreckt.«
Amy legte ihre Hand auf meinen Arm. »Es dürfte Ihnen im Moment nicht klar sein, aber je mehr Sie darüber wissen, umso besser. Ich jedenfalls hatte damals keine Ahnung und war völlig überfordert damit. Ich hätte eine Anleitung gebraucht, irgendetwas, mit dem ich hätte arbeiten können – ein Handbuch, indem genau beschrieben wird, wie ich meine Tochter erziehen muss.«
»Aber das Wichtigste ist doch, sie zu lieben.«
»Das war nie unser Problem. Keine Frage, wir lieben sie über alles. Aber Sie müssen geduldig sein, das kann ich Ihnen nur raten.«
Als wir siebzehn Stunden und einige Zeitzonen später in Peking ankamen, hieß uns Max willkommen. Max war unser Dolmetscher, Reiseleiter, Adoptionsberater, quasi unser Mädchen für alles. Es gab nichts, worum wir ihn nicht hätten bitten können. Max war ein Derwisch, der andauernd mit seinem Handy spielte, SMS verschickte oder telefonierte oder einen Blick in die Zeitung warf, die er sich unter den Arm geklemmt hatte. Er war klein und schmal gebaut – er wog bestimmt keine 50 Kilogramm, selbst wenn er sich mitsamt seiner schwarzen Lederjacke auf die Waage stellte – doch er wuchtete die schweren Koffer durch die Gegend, als wögen sie nichts. Als dann jeder aus unserer Gruppe sein ganzes Gepäck vor sich stehen hatte, sammelte er unsere Ausweispapiere ein, führte uns durch den Zoll und ließ uns in einen Bus einstiegen, der zum Jade Garden Hotel fuhr, wo wir zwei Tage verbringen würden, bevor wir dann weiter südlich zu Sam flogen. Mit großen Augen sahen wir dem Rauch nach, der aus den gigantischen Fabrikschlöten quoll, beobachteten, wie Radfahrer neben den Autos um ein bisschen Abstand kämpften und wie ältere Damen unter farbenprächtigen Schirmen die Straße entlangtrippelten.
In der Lobby sammelte Max unsere Gruppe um sich. »Sie verbringen zwei Tage in Peking. Entdecken Sie die Stadt! Es gibt hier so viel zu sehen! Nehmen Sie eine Rikscha zum Platz des himmlischen Friedens und in die Verbotene Stadt«, beschwor er uns. Wir nickten, täuschten Interesse vor und stellten einige Fragen zu den öffentlichen Verkehrsmitteln und dem Essen, aber es war klar, dass uns ganz andere Dinge beschäftigten. Wir warenschließlich hergekommen, um unsere Töchter in Empfang zu nehmen, und der Gedanke an das ganz normale Touristenprogramm schürte nur unsere
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