Töchter auf Zeit
Frau, die ich im Spiegel sah, hatte keine Ähnlichkeit mehr mit der verwahrlosten Frau, zu der ich mich hatte gehen lassen. Ich sah richtig hübsch aus. Mein Haar glänzte in einem wunderbaren schokoladenfarbenen Ton mit ein paar in einem helleren Braun getönten Strähnen und legte sich in sanften Wellen um mein Gesicht. Meine Haut sah strahlend und rosig aus. Meine Augenbrauen waren zu perfekten Bögen zurechtgezupft. Nach Jahren, in denen ich mich nicht als vollwertige Frau gefühlt hatte, weil ich nicht schwanger werden konnte, und in denen ich das Frausein ausschließlich über die Fähigkeit, Kinder zu bekommen, definiert hatte, fühlte ich michwieder weiblich und vollkommen. Zwar lagen nicht alle Puzzleteile an der richtigen Stelle, aber zumindest waren sie vollzählig.
Als wir wieder zu Hause waren, hatte ich den Eindruck, als wüssten Davis und Delia nicht so recht, was sie über mein neues Ich sagen sollten, weshalb ich kurzerhand beschloss, ihnen aus der Klemme zu helfen. »Ich seh aus wie neu, oder?«, grinste ich und vollführte eine Pirouette, um ihre volle Aufmerksamkeit zu erregen.
»Du siehst fantastisch aus«, bestärkte mich Delia und zog mich in ihre Arme.
»Wirklich wunderschön!«, pflichtete Davis ihr bei.
Und ich selbst war mehr als glücklich. Endlich war ich angekommen – eine wunderbare Familie an meiner Seite, kurz davor, nach China zu fliegen und Sam zu holen. Das Loch in meinem Herzen schien sich endlich zu schließen.
KAPITEL 12
An einem Freitag, drei Wochen vor Weihnachten, bestiegen Tim und ich das Flugzeug, das uns nach Peking bringen sollte. Insgesamt sollte unsere Reise achtzehn Tage dauern. Planmäßig sollten wir Sam am dritten Tag unserer Reise in Empfang nehmen dürfen. Der zuständige Reiseleiter hatte uns erzählt, dass weitere zehn Adoptiveltern unserer Vermittlungsagentur Babys aus demselben Waisenheim holen würden, sechs davon saßen im selben Flugzeug wie wir. Auf den Plätzen neben uns saßen Amy und Tom DePalma. Sie kamen aus New Jersey und hatten bereits ein Kind adoptiert. Ihr erstes Kind, Angela, war jetzt vier, ging in die Vorschule und ins Ballett. Sie reisten ein zweites Mal nach China, um ihre kleine Schwester
mei-mei
abzuholen.
Amy und ich waren uns auf den ersten Blick sympathisch. Sie strahlte nicht nur dieselbe Zuversicht und Offenheit aus wie Claire, mehr noch: Sie war ebenso geschickt im Umgang mit Kindern. Anscheinend hatte sie kein Problem damit, ihre vierjährige Tochter auf einen siebzehnstündigen Flug mitzunehmen. Angela saß auf ihrem Schoss, wurde von ihrer Mutter am Rücken gekrault, und während Amy dann einen Apfel mit einem Plastikmesser schälte und ihrer Tochter Stückchen davon gab, führte sie gleichzeitig ein intelligentes Gespräch mit mir – all das erinnerte mich stark an Claire. In nur wenigen Stunden, in denen wir das abgepackte Essen, Erdnüsse und einen Plastikbecher Chardonnay verdrückten, hatte Amy mich über die großen Fragen der Kindererziehung aufgeklärt: Babymilch auf Kuhmilch- oder doch besser Sojamilchbasis, Baby Björn oder besser Snugli, Huggies oder Pampers, impfen oder nicht impfen.
»Bei diesen Kindern muss man mit allem rechnen«, sagte Amy. »Sie sind es nicht gewohnt, jemandem in die Augen zusehen, sie wollen nicht von jedem hochgenommen werden und sie bunkern ihr Essen. Aber das ist ganz normal – zumindest typisch für sie.«
»Alles Dinge, auf die ich mich freue«, sagte ich daraufhin, obwohl ich spürte, wie meine alten Ängste wieder hochkamen, dass meine Tochter einen seelischen Knacks abbekommen haben könnte, weil sie von ihrer Mutter weggegeben worden war und mich deshalb nicht würde lieben können.
»Stellen Sie sich besser darauf ein, dass die meisten dieser Kinder … nun ja, sie sind entwicklungsverzögert. Sie sind mit allem später dran, ihre Entwicklung verläuft nicht altersgerecht. Kein Wunder, nach einem Jahr oder länger in einem Waisenheim.«
Nicht altersgerecht. Entwicklungsverzögert.
Ich musste mir wohl ein Glossar für solche Ausdrücke anlegen.
»Gut zu wissen«, sagte ich in ernstem Tonfall und nahm einen Schluck Wein.
»Keine Bange, selbst wenn Ihre Tochter verhaltensauffällig ist, sie wird das überwinden«, meinte Amy mit einer bestätigenden Handbewegung. »Es gibt ganz schön schlimme Auffälligkeiten. Manche Kinder donnern ihren Kopf gegen die Wand oder auf den Boden oder reißen sich die Haare büschelweise aus. Freunde von uns haben ebenfalls eine
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