Töchter auf Zeit
uns damit fragen wollte, ob wir gern scharf essen. Wieder nickte Tim, legte diesmal aber die Hände um seinen eigenen Hals und schüttelte dann den Kopf. Scharf, aber bitte bring uns nicht um! Ich nahm an einem der Tische am Fenster Platz. Tim zahlte und kam mit vier Bier in der Hand zu mir.
»Gleich vier?«
»Ich fürchte, die brauchen wir noch. Ich habe gesehen, wie viele Chilis er in unser Essen getan hat.«
Sekunden später zischte und dampfte der Wok. Eine Minute später standen zwei Schüsseln mit Nudeln vor uns, die in einer öligen roten Brühe schwammen, ganz oben unzählige Chilisamen. Der Duft war aromatisch und komplex. Wir nahmen einen winzigen Bissen zu uns. So etwas Scharfes hatte ich noch nie probiert. Sofort brach mir der Schweiß auf der Stirn aus, meine Ohren brannten, und meine Lippen standen in Flammen. Zügig leerte ich ein Bier, wedelte mir Luft zu, wartete, bis die Schmerzen nachließen, und schob mir einen weiteren Löffel davon in den Mund. Diese Mischung aus bissfesten Nudeln, feiner Brühe und die Schärfe der Gewürze machten süchtig. Ein masochistisches Sinneserlebnis, als ob man seine halb erfrorenen Hände eine Minute zu lang vor ein offenes Feuer hält. Gierig leerten wir unser Bier, aßen wieder einen Bissen, zogen die Brauen hoch und aßen weiter.
»Mein Gott, ist das lecker!«, brachte ich schließlich hervor.
»Ich habe keine Ahnung, was wir da essen, aber es ist wirklich ausgezeichnet«, meinte Tim.
»Das fühlt sich alles so vertraut an. Nur du und ich, auf Reisen.«
»Wir hatten so viel Spaß«, erwiderte Tim.
»Willst du damit sagen, dass ich mit meinem unstillbaren Kinderwunsch die letzten fünf gemeinsamen Jahre in den Sand gesetzt habe?«
»Glaubst du wirklich, ich antworte dir auf eine solche Frage mit Ja?«, grinste Tim und schob sich einen weiteren Löffel in den Mund. »Als ob ich das überleben würde.«
Ich griff nach Tims Hand und sah ihm direkt in die Augen. »Es tut mir leid, Tim. Es tut mir so leid.«
»Das fühlt sich doch alles richtig an, oder?«, fragte Tim. »Dass wir hier in China sind. Unser Baby kriegen. Das sind doch wir. Das passt zu uns.«
»Ich kann es kaum noch erwarten, sie endlich zu sehen. Ich kann es kaum noch erwarten, dass sie endlich zu uns gehört. Es passiert wirklich! Morgen kriegen wir Sam!«
Tim und ich verdrückten die ganze Schüssel mit den Nudeln, vier Bier und baten dann den Koch, uns noch mal eine Portion zu machen. Obwohl wir eigentlich schon satt waren und leicht einen sitzen hatten, wollten wir diesen Moment auskosten, in unseren Erinnerungen an unsere Reiselust schwelgen und noch einmal in unsere märchenhafte Liebesgeschichte eintauchen, die vor Jahren in den Hügeln von Lyon begonnen hatte. Damit schlossen wir ein Kapitel unseres Lebens ab und öffneten sogleich ein neues.
KAPITEL 13
Am nächsten Morgen wachten Tim und ich sehr früh auf, sprangen unter die Dusche, zogen uns an und gingen hinunter ins Restaurant, um Kaffee zu trinken und einen Happen zu essen. Ich hatte überhaupt keinen Hunger, mir war flau und mein Kopf dröhnte. Tim aber hatte wie immer keine Probleme und konnte schon wieder kräftig zulangen. Außerdem ließ es seine Neugier als Koch einfach nicht zu, auch nur eine Gelegenheit, neue Geschmackswelten zu entdecken, zu verpassen, selbst an einem so aufregenden Tag wie heute, an dem wir endlich Sam in unsere Arme schließen würden. Schon häufte er gedämpfte Klebreisbrötchen, eine Mischung aus Reis und Fleisch und eine zarte Eiercreme auf seinen Teller. Allein bei dem Gedanken, ich müsste auch nur einen Bissen davon zu mir nehmen, musste ich mich beinahe übergeben.
Nach Tims Frühstück und mehreren Tassen Kaffee für mich gingen wir in unser Zimmer hoch, und dann hieß es für uns: warten. Wir hatten schon mitbekommen, dass die Babys bereits im Hotel waren, denn Tim hatte zuvor Tom und Amy gesehen, wie sie mit ihrem neuen Kind auf dem Arm aus dem Fahrstuhl traten.
Insgesamt waren zehn Babys hierhergebracht worden, die Fahrt hatte an die drei Stunden gedauert.
Aufgeregt hockten wir uns an den Bettrand, klopften unruhig mit den Füßen auf den Boden und schlugen die Knie aneinander. Dann prüften wir den Ladezustand der Batterien für den Fotoapparat und die Videokamera und warfen einen erneuten Blick auf unsere Mitbringsel. Es war in China üblich, dem Direktor und dem Personal des Waisenheims Geschenke zu überreichen. Zusätzlich zu der nicht unerheblichen Geldsumme, die wir Maxbereits
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