Töchter auf Zeit
Ausschau nach einer Fluchtmöglichkeit. Es war kurz nach Mitternacht, als Sam ihren letzten Kampfschrei losließ und aus dem markerschütternden Schrei ein flaches Wimmern wurde, bevor sie völlig erschöpft in den Schlaf sank.
Das Hotel hatte ein provisorisches Kinderbett zusammengeschustert und einfach zwei Polstersessel mit der Sitzfläche zueinander hingestellt und das Ganze dann mit Seilen festgezurrt. Von unserem Bett, auf dem wir alle drei lagen, bis zu ihrem Nachtlager wäre es für uns viel zu weit gewesen. Tim und ich konnten zwar selbst kaum noch aus den Augen schauen, trotzdem aber konnten wir den Blick von Sam nicht abwenden, die in unserer Mitte lag.
»Sollen wir sie in ihr Bettchen legen?«, fragte Tim und seine Stimme klang völlig erschöpft.
»Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht einen Schritt mehr gehen. Außerdem habe ich Angst, sie aufzuwecken, wenn wir sie anfassen.«
»Und dann fängt sie wieder an zu schreien«, beendete Tim meinen Gedanken.
»Puh, ist das anstrengend!« Ich dachte an die Zeit, als Elle Reese uns über unser Leben befragt und ihren Bericht über uns geschrieben hatte. Das war etwa ein Jahr her. Damals hatten wir alles Mögliche versprochen: Wir wollen Sam lieben, sie erziehen, uns um ihre Gesundheit kümmern, sie mit Essen und Kleidungversorgen und ihr ein Dach über dem Kopf bieten. Wir hatten nicht bedacht, wie schwierig das sein würde. Eltern zu sein war anstrengend – das war mir nun klar, wenige Stunden nur, nachdem ich Mutter geworden war. Eltern eines Babys zu sein, das weggegeben, gefunden und dann neuen Eltern zugeteilt worden war, war vermutlich noch schwieriger.
»Bist du denn glücklich?«, fragte mich Tim. »Oder ist es noch zu früh für diese Frage?«
»Ich bin glücklich. Sehr sogar. Doch eines steht fest: Sie hat die Mail, dass wir kommen, definitiv nicht erhalten.«
»Heute ist unser erster Tag als Eltern«, meinte Tim beruhigend und strich über meinen Rücken. »Wir sind Fremde für sie.«
»Weshalb bin ich davon ausgegangen, dass sie uns kennt?«, fragte ich und dachte daran, unter welch romantischen Vorzeichen ich in meinen Gedanken unser erstes Treffen gestellt hatte. Ich war ernsthaft davon ausgegangen, aus unser aller Leben würde auf Knopfdruck ein Familienleben entstehen, genauso wie sich die zahlreichen Flüsse ihres Heimatlandes zu einem großen Strom vereinigten.
»Von heute an werden wir ihr alles zeigen, was sie wissen muss«, meinte Tim.
»Ich frage mich nur, was sie davon hält.«
»Sie denkt wahrscheinlich, dass wir Langnasen merkwürdig aussehen.«
Ich musste lachen und warf einen Blick auf Sam, sah, dass ihre kleinen Hände noch immer zur Faust geballt waren und dass sie noch immer diese kleine Zornesfalte auf der Stirn hatte.
»Vielleicht rufst du jetzt Claire an«, schlug Tim vor. »Ich glaube, bei ihr ist es vormittags. Das wäre genau der richtige Moment.«
Ich wälzte mich zur Seite, griff nach meinem Handy und wählte ihre Nummer.
»Ich will alles wissen«, meldete sich Claire sofort, als hätte sie den ganzen Vormittag auf meinen Anruf geantwortet.
»Sorry, aber ich bin zu müde zum Reden. Mir tut jeder Knochen einzeln weh. Sogar mein Kiefer. Ich wollte dir nur sagen, dass alles in Ordnung ist, dass Sam ganz entzückend ist und dass ich mir ziemlich sicher bin, dass sie mich hasst.«
»Kannst du dich erinnern, als Maura auf die Welt kam?«, fragte sie mich. »Sie mochte niemanden, wenn ich mich recht entsinne.«
»Stimmt«, pflichtete ich ihr bei. »Sie war andauernd stinksauer und grantig.«
»Auf jeden Fall kriegst du so einen Vorgeschmack auf das, was dich erwartet, wenn sie erst mal in der Pubertät ist.«
KAPITEL 14
Am nächsten Morgen verfütterten wir eine riesige Schüssel mit Congee, der Reissuppe, an Sam, dazu gedämpfte Brötchen und ein weich gekochtes Ei.
»Sie isst wie ein Scheunendrescher«, meinte ich zu Tim. »Ich verstehe nicht, weshalb sie so winzig ist.«
»Sie weiß noch nicht, dass sie von jetzt an immer satt werden wird.«
»Hast du das gehört, Sammy?«, sagte ich und kraulte sie unter dem Kinn. »Mom und Dad geben dir immer genug zu essen. Was sagst du eigentlich dazu, dass deine Eltern beide Köche sind?«
Sammy sah weg. Bislang hatte sie sich erfolgreich geweigert, mir oder Tim in die Augen zu sehen. Dann griff sie mit beiden Händchen ins Essen, das auf dem eingebauten Tablett ihres Kinderstuhls stand. Ganz offensichtlich machte es ihr einen Riesenspaß, mit diesem Übermaß an
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