Töchter auf Zeit
Vergleich dazu, was es bedeuten würde, sich um Sam, meine frischgebackene Tochter zu kümmern, die überall sein wollte, nur nicht in meinen Armen.
Ich zog ihr solch einen Füßli-Pyjama an, den auch Maura als Baby getragen hatte. Als ich Sam in meinen Armen wiegte, sah ich in ihre Augen, als könnte ich dort die reiche Geschichte einer altertümlichen Kultur erblicken. Ich wollte Hoffnung in ihren Augen lesen, obwohl dieses kleine Wesen die ersten zwölf Monate seines Lebens in einem Waisenheim hatte verbringen müssen. Ich wollte ihre Seele erkennen, ihre Persönlichkeit, irgendetwas, was mir ihre wahre Natur verraten würde, doch stattdessen sah ich nichts als Tränen. Tränen eines unglücklichen Babys, das die Welt nicht mehr verstand. Ihre Unterlippe wölbte sich vor, ihre Wangen waren hektisch gerötet und ihre Fäuste geballt, als wäre sie ein Profiboxer und wollte mir sagen: Wer glaubst du eigentlich, dass du bist?
Ich fragte mich, ob die Kupplerinnen – oder der Computer – die richtige Entscheidung getroffen hatten. Als ich Sam mit sanftem Streicheln zu beruhigen versuchte und kaum fassen konnte, wie zart und zerbrechlich sie war, wurde mir klar, dass sie keines dieser Kinder war, die sich in Sekunden ablenken ließen. Bei ihr würden ein Einschlaflied oder eine klimpernde Halskette nicht genügen, um sie rasch zum Lächeln zu bringen.
Vielen Dank für Ihren Vertrauensvorschuss
, wollte ich diese Ladys anbrüllen,
aber ich habe keine Ahnung von Frühförderung! Da müsst ihr euch schon an meine Schwester Claire wenden. Bitte, ich will ein ganz normales Kind, eines dieser quietschfidelen pausbäckigen Babys mit einem fröhlichen Naturell!
Tief in mir drin wusste ich, dass Sam von seltener Schönheit war, die mir meinen Mangel an selbiger bestimmt krummnehmen würde, und dass ihr Temperament meinem zu sehr ähnelte.
»Denk an Amys Worte«, erinnerte mich Tim. »Zeit und Geduld.«
Ein paar Stunden später traf sich unsere Gruppe vollzählig im Konferenzraum des Holiday Inn, um dem Notar, der denPapierkram erledigen sollte, ein paar Fragen zu beantworten. Erst dann sei die Adoption formell abgeschlossen. Dann könnten wir Sams Pass und Visum beantragen. Als Tim und ich den Raum betraten, fiel mir als Erstes auf, dass alle Babys noch in den Klamotten aus dem Waisenhaus steckten. Ich sah Amy und fragte sie, was los sei.
»Oh«, meinte sie entschuldigend und verzog den Mund, als wollte sie sich dafür entschuldigen, mich nicht darauf hingewiesen zu haben. »Badezeit im Waisenheim ist eine einzige Katastrophe. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, so viele Babys auf einmal zu baden. Noch dazu in dieser Jahreszeit. Die Heizung ist mangelhaft und durch die kalte Luft kühlt das heiße Wasser schnell wieder ab.«
»Oh«, meinte ich bedauernd und bereute meine Entscheidung, Sam sofort in die Wanne gesteckt zu haben. Woher hatte Tim das wissen können? Wo blieb mein Mutterinstinkt? In diesem Augenblick zwickte mich mein linker Eierstock, als ob dieser elendige Besserwisser mit seiner großen Klappe mir unverblümt meine mangelnde Eignung zur Mutter – bis jetzt zumindest – klarmachen wollte.
Als wir an der Reihe waren, wollte der Notar, ein untersetzter Mann mit einem kratzigen Bart, wissen, ob wir vorhätten, das Baby, das wir heute bekommen hatten, zu behalten.
»Ja, natürlich«, antworteten wir unisono.
»Möchten Sie zu Protokoll geben, dass etwas nicht in Ordnung ist mit ihr?« Er hielt den Stift direkt über sein Klemmbrett und strich sämtliche Eselsohren und Knickstellen damit glatt. Beim Autoverleih hatte der Mitarbeiter genau das Gleiche getan.
»Nein, nein«, meinte ich abwehrend und drückte Sam enger an mich. »Sie ist ganz wunderbar.«
An diesem Abend versuchten Tim und ich stundenlang, Sam zum Einschlafen zu bringen. Ich nahm sie mit hinunter in die Eingangshalle, klopfte mit meinen Fingern im Takt eines altenKinderlieds auf ihren Rücken. Bei Claire und Maura hatte das immer geklappt. Tim setzte sich mit ihr in einen Schaukelstuhl und sang ihr ein Lied vor. Wir gaben ihr das Fläschchen, fütterten sie mit Reissuppe und wechselten ihre Windeln im Stundentakt. Wir ließen sie ein Bäuerchen machen, legten sie uns abwechselnd über die Schulter, in den Schoß und schaukelten sie auf unseren Knien. Aber unser Baby hatte Angst, Panik. Ihr Instinkt befahl ihr zu schreien, ihren Rücken steif zu machen und zu winden, als hätten wir sie in Ketten gelegt. Es war, als hielte sie
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