Töchter auf Zeit
sah ich wieder Sam an. Ich wiegte den winzigen Körper in meinen Armen, bewunderte ihre Vollkommenheit und verlor mich in ihren mandelförmigen Augen. »Alles ist gut«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Ich bin kein schlechter Mensch.« Sam sah mich an, dann ihre Pflegerin, holte tief Luft und fing an zu kreischen. Noch nie in meinem Leben hatte ich auch nur etwas annähernd Vergleichbares gehört.
Ihr Schreien fuhr mir durch Mark und Bein. Mein Vertrauen in mich sank ins Bodenlose. Vielleicht war meine Unfruchtbarkeit ja doch ein Zeichen gewesen, dass ich nicht für die Mutterschaft geschaffen war.
»Möchten Sie der Pflegerin ein paar Fragen stellen?«, unterbrach Max meine Gedanken.
»Ja klar«, sagte ich, obwohl mir nicht eine einzige mehr einfallen wollte. Alle Fragen, die ich mir in den letzten Tagen überlegt hatte, waren wie weggeblasen.
Die Pflegerin lobte Sam als pflegeleichtes Kind, das viel lachte und alles aufaß.
»Sie ist so winzig«, meinte ich. »In ihren Unterlagen steht, sie wiegt 12 Kilogramm. Das glaube ich nicht. Sie wiegt bestimmt viel weniger. Ist alles in Ordnung mit ihr?«
»Sie ist ein starkes Mädchen«, schaltete sich die Direktorin ein. »Sie wiegt 24 Pfund, isst alle Mahlzeiten auf.«
»Sonst noch Fragen?«, wandte sich Max an mich.
»Haben ihr ihre Eltern irgendetwas dagelassen – einen Brief vielleicht?«
Die Direktorin las aus ihrer Akte vor, dass Sam in einer Einkaufstüte ausgesetzt worden war, in eine dicke Decke gehüllt und in Zeitungen verpackt.
»Noch Fragen?«, wollte Max wissen.
Wird sie mich jemals lieben? Wird sie mich jemals verlassen? Wird sie die Leere in meinem Herzen füllen können?
Das waren die mir wichtigen Fragen, doch stattdessen sagte ich: »Sie ist wunderschön. Vielen Dank.«
Als wir wieder in unserem Zimmer waren, konnten wir den Blick von Sam nicht abwenden. Da lag sie, unser Traum in Fleisch und Blut. Nach so langer Zeit, in der wir uns vor Sehnsucht nach ihr verzehrt hatten, kam mein Gehirn nicht mit der Realität zurecht.
Sie lag auf meinem Schoß und ich strich ihr behutsam über ihre Stoppelhaare. Ich wollte alle meine Sinne ansprechen, damit ich endlich begreifen konnte, dass ich nicht träumte.
»Aus hygienischen Gründen«, meinte Tim und deutete auf Sams so gut wie kahl geschorenen Kopf. »Sie riecht nach Ajax.«
»Was denkst du wohl jetzt, meine kleine Maus?«
Als ob sie mir antworten wollte, begann Sam zu weinen. Vermutlich musste sie gewickelt werden. Langsam zog ich sie Schicht für Schicht aus. Alle chinesischen Babys sind so dick eingemummelt, dass sie aussehen wie ein Michelin-Männchen. Mittlerweile hatten wir uns an den Anblick dieser in mehrere Schichten verpackten Bündel gewöhnt. Bei Sam bestand dieäußerste Schicht aus einem groben Baumwollkittel mit Apfelmuster. Darunter dann zwei Wollpullis, ein graues Sweatshirt und als Letztes dann ein blaues Pepsi-T-Shirt. Das Waisenheim erhielt jede Menge Spenden aus den westlichen Ländern, und natürlich auch Kleiderspenden.
»Heb mal!« Ich hielt Sams Windel hoch. Sie wog bestimmt ein ganzes Pfund. Ich ließ warmes Wasser in die Wanne ein und gab eine Kappe Lavendelschaumbad dazu. Ich war mir sicher, ein schönes Bad würde meine Kleine nach der anstrengenden Fahrt vom Waisenheim hierher beruhigen. Ich hatte Claire schon Dutzende von Malen dabei geholfen, Maura zu baden. Kleine Kinder lieben es, im Wasser zu plantschen.
»Vielleicht nehmen wir sie erst mal nur auf den Arm«, schlug Tim vor.
»Es wird ihr gefallen«, beharrte ich, aber Sam schrie und wand sich in meinen Armen, als würde ich sie in kochendes Wasser tauchen. »Alles ist gut, alles ist okay«, flötete ich. Ich wusch ihren Körper und ihren Kopf mit dem lieblich duftenden Badezusatz von zu Hause. Sam aber wurde erst wieder ruhig, als ich sie aus der Wanne hob. Während Tim sie in ein weiches Handtuch wickelte, sodass ich mich selbst abtrocknen konnte, berührte mich die plötzliche Ruhe zutiefst. In den Armen ihres Vaters war sie endlich glücklich und zufrieden.
Ich warf einen Blick auf mein Spiegelbild: meine Lippen eng aufeinander gepresst, meine Augen weit aufgerissen, mein Kiefer verkrampft. Als ich mir schließlich in die Augen sah und erkannte, wie verängstigt und unsicher ich dreinblickte, wusste ich, dass mir eine schwere Zeit bevorstand. Mich um Tim und mich selbst zu kümmern, ja sogar die schlimme Zeit, Claire bei der Pflege unserer sterbenden Mutter zur Seite zu stehen, war
nichts
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