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Töchter auf Zeit

Töchter auf Zeit

Titel: Töchter auf Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Handford
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Nahrung zu spielen.
Das Essen schmeckt gut
, schien sie uns sagen zu wollen.
Aber wir wollen den Tag nicht vor dem Abend loben.
    Nach dem Frühstück setzten wir Sam in einen Kinderwagen und gingen nach draußen. Wir schoben den Kinderwagen abwechselnd durch die engen Gassen, vorbei an den Verkäufern, die alles Mögliche feilboten, von Tontassen über getrocknete Bohnen, Reis mit Aal, Frösche in Eimern und einer Vielzahl von Insekten. Es roch nach frisch gewaschener Wäsche, Abwässern und Frittiertem. Über uns hing nicht nur Wäsche, sondern auch kopfloses Geflügel, sodass wir gar nicht genau wussten, woher die Tropfen stammten, die uns ab und zu trafen. Sam trug einen Schneeanzug und eine Wollmütze, aber fürdie hiesigen Verhältnisse war das wohl zu wenig, denn eine ältere Frau schimpfte mit uns, weil wir sie nicht dick genug eingepackt hatten.
    »Ja, Ma’am. Ja, Ma’am«, wiederholte Tim des Öfteren, während die Frau mit dem Finger auf uns zeigte und uns anschrie. Wir versprachen ihr hoch und heilig, Sam in Zukunft wärmer einzupacken, gingen dann unseres Weges und brachen in lautes Gelächter aus, sobald sie aus unserem Blickfeld verschwunden war.
    Als wir Sam fragend ansahen, um zu sehen, was sie wohl von der ganzen Aufregung hielt, schien sie bloß die Schultern zu zucken, als wollte sie sagen:
Was soll’s, so sind die alten Damen hier nun einmal.
    Am Nachmittag brachten wir alle unsere Babys in die Klinik, um sie ärztlich untersuchen zu lassen. Die Ärzte wogen und maßen sie, sahen in ihre Augen, Ohren und Hälse, zogen an ihren Gliedmaßen, prüften mit einem Hämmerchen ihre Reflexe und verkündeten dann einstimmig, dass sich alle Babys »bester Gesundheit« erfreuten.
    »Wie viel wiegt Sam jetzt?«, fragte ich nach, weil ich wusste, dass sie niemals so schwer war, wie in ihren Akten stand.
    »Sechseinhalb Kilogramm«, meinte der Arzt.
    »Weshalb ist sie so winzig?«
    Der Arzt zuckte die Achseln. »Manche Babys kriegen mehr ab, manche weniger.«
    Ein Schauer rann mir bei dem Gedanken den Rücken hinunter, als ich mir vorstellte, wie ein größeres, lautstarkes Kleinkind meine kleine Sam bei der Essensverteilung in den Hintergrund drängte wie der Schulhofschläger seine Mitschüler in der Mensa.
    »Noch etwas, Doktor«, rief ich, »was bedeuten diese Zeichen?«, und deutete auf eine Zahlenreihe in Sams Akte.
    »Das war ihr Geburtsgewicht.«
    Ich tippte Tim auf den Arm und bedeutete ihm mit aufgerissenen Augen nachzuhaken.
    »Und wie viel hat sie gewogen?«
    »Knapp zwei Kilogramm.«
    »Nur zwei Kilogramm?« Ich sah zu Tim und unsere Blicke trafen sich. Dann drückte ich meine Lippen auf Sams Stirn. Zwei Kilogramm. Nicht einmal so viel wie eine Vorratspackung Mehl. Zwei Kilogramm, zwei Tage alt, allein da draußen Wind und Wetter ausgesetzt und schrie sich die Seele nach ihrer Mutter aus dem Leib. Wie konnte es sein, dass es in diesem Land derart zweischneidig war, ein Kind auszusetzen – eine gute und zugleich so grausame Tat?
    Ein paar Tage später steckte Max uns wieder in den Bus, diesmal zum Liu-Rong-Tempel, dem Tempel of Six Banyan Trees. Dort sollten buddhistische Mönche unsere Babys segnen.
    Wir folgten Max in den Temple of Tranquility und knieten vor drei safrangelben Buddhastatuen. Dann begann ein nachdenklich wirkender Mönch, der in ein braunes Tuch gehüllt war, zu singen und auf einen Gong am Altar zu schlagen. Sam, der wir eine traditionelle chinesische Tracht angezogen hatten – ein Satinteil, das wir an einem Straßenstand erstanden hatten –, saß vor mir und war wie gelähmt beim Anblick des Mönchs. Als ich sie auf meinen Schoß nehmen wollte, krabbelte sie weg.
Ich mag das doch nicht, gute Frau.
    Schon bald nach unserer Rückkehr nach Amerika wollten wir Sam taufen lassen. Eigentlich wegen meiner Mutter, denn ihr hätte das sehr viel bedeutet. Tims Eltern auch. Na ja, und wenn jemand Gottes Segen braucht, dann wohl ein Waisenkind, das zwei Tage nach seiner Geburt ausgesetzt worden war. Obwohl ich ziemlich oft an Gottes Willen herummotzte und daran, was ich schon alles hatte mitmachen müssen, war das heute ein Tag, an dem man einfach an Gottes Existenz glaubenmusste. Wohin ich auch blickte, überall um mich herum waren chinesische Babys – wohl an die hundert – in Begleitung ihrer frischgebackenen Eltern, die sich nichts sehnlicher wünschten, als diesem Kind ihre Liebe zu schenken und es in der Geborgenheit ihrer Familie großzuziehen. Wir wollten, dass Sam

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