Töchter auf Zeit
vornübergebeugt dastand, weil das Gewicht ihrer 35-Millimeter-Kamera sie leicht nach unten zog, aber sie wollte jeden einzelnen Moment unserer Reise mit einem Foto für immer festhalten.
Ununterbrochen suchten Einheimische und Touristen den Tempel auf, sprachen ein Gebet und warfen etwas in die Spendenbox. Ich wollte gerade gehen, als mein Blick auf eine Gruppe von Frauen vor dem Tempel fiel. Ich beobachtete, wie sie sich hinknieten, ein Gebet murmelten und Weihrauch anzündeten. Sie gehörten anscheinend zusammen, denn während sie knieten, sprachen sie miteinander und ich hörte sie alle dasselbe Gebet murmeln. Sie erinnerten mich an Mom. Sie hatte sich der martianischen Legion angeschlossen, die täglich den Rosenkranz betete. Einmal in der Woche saßen sie alle in den vorderen Reihen in der Kirche St. Mary’s und beteten ihn laut hörbar für die anderen Kirchgänger.
Mit klopfendem Herzen schloss ich zu den Frauen auf, kniete mich hinter sie und faltete erneut meine Hände zum Gebet. Dienächsten zwanzig Minuten flüsterten wir unsere Gebete, sie auf Chinesisch, ein Metronom aus Bitte und Danke, Niemals und Für immer. Als die chinesischen Frauen damit fertig waren, erhoben sie sich geräuschlos, brachten mich aber trotzdem aus der Ruhe, die ich in der Meditation gefunden hatte. Eine der älteren Frauen sah mir direkt in die Augen, griff nach meiner Hand und drückte sie ziemlich fest.
Sie sagte etwas auf Chinesisch zu mir, das sich in meinen Ohren anhörte wie: »Schön, dass Sie hier waren, meine Liebe.«
Ich brachte nur ein »Danke schön« heraus, weil mich ein Schauer durchlief.
Dann zündete ich ein paar Kerzen an, ging hinaus in den Garten und setzte mich auf eine harte Bank aus Beton und starrte erneut die Buddhastatue an.
Ich holte tief Luft, sah in den Himmel und wusste, es war an der Zeit für eine Unterredung mit meiner Mutter, meiner lieben, guten Mutter, mit der ich seit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr gesprochen hatte.
»Mom«, sagte ich, um meine Stimme zu testen. Brachte ich ihren Namen über meine Lippen? »Ich bin hier in China. Siehst du mich? Hast du mitbekommen, dass ich jetzt eine kleine Tochter habe? Ist sie nicht wunderbar?« Ich suchte in meiner Handtasche nach ein paar Taschentüchern, aber das Einzige, was ich zwischen die Finger bekam, war eine Socke von Sam. Auch Claire zog immer aus fast jeder Jackentasche einen Schnuller hervor. Wegen dieser Socke fühlte ich mich mit einem Mal wie meine Schwester, wie eine richtige Mom. Erst tupfte ich mir damit die Tränen von den Augen, dann schnäuzte ich kräftig hinein.
»Ach Mom. Weißt du, ich habe das zig Millionen Mal gedacht, und ich schäme mich so sehr und ich bereue es unendlich, dass ich es dir nie gesagt habe. Deshalb sage ich es dir jetzt:
Es tut mir so leid, Mom.
Es tut mir so leid, dass ich nicht die Tochterwar, die du gebraucht hättest, als du krank warst. Weil ich dich gut kenne, weiß ich, dass du jetzt etwas sagst wie:
Ach, Liebling, du warst doch so traurig. Es ist schon okay, du hast dein Bestes getan.
Das mag sein, aber wenn ich die Uhr zurückdrehen könnte, wäre ich genau so, wie du mich gern gehabt hättest. Ich würde dir meine Liebe Tag für Tag unter Beweis stellen, sodass du diese Welt verlassen könntest, ohne im Mindesten daran zu zweifeln. Dein Herz würde praktisch überlaufen. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mir wünsche, dich noch einmal in den Arm nehmen zu können und dir zu sagen, wie sehr ich dich liebe. Ich liebe dich sehr, Mom. Und es tut mir schrecklich leid.«
Als ich wieder ins Krankenhaus zurückkehrte, hielt Tim Sam in seinen Armen. Sie sah nicht mehr so erschöpft aus und war gut gelaunt. Als sie mich sah, lächelte sie und streckte ihre Arme nach mir aus. Ich war so unglaublich stolz auf mich, und eine Welle Mutterglücks durchflutete mich. Anscheinend hatte sich unser roter Faden mit einem Material verstärkt, das nicht kleinzukriegen war.
Nach siebzehn langen Tagen verabschiedeten wir uns von Max, den anderen Adoptiveltern, ihren süßen kleinen Töchtern und der chinesischen Provinz, in der Sam das Licht der Welt erblickt hatte. Amy und ich versprachen einander, uns E-Mails zu schreiben, sooft es ging. Unsere Männer machten Fotos von uns mit Sam und Maria im Arm und der kleinen Angela zwischen uns. Dann machte Amy noch ein letztes Bild von Tim, Sam und mir, und wir schossen im Gegenzug eines von ihrer Familie. Als Amy mich in die Arme nahm, musste ich losheulen, denn ohne
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