Töchter auf Zeit
sie hätte ich die letzten Tage nicht überstanden. Sie war zu einer Ersatz-Claire für mich geworden, und es war wunderbar, dass ich gut 10 000 Kilometer von meinem Heimatort entfernt eine zweite Schwester gefunden hatte.
Wir gingen an Bord der Boeing 747, setzten uns Sam auf den Schoß und gaben ihr einen Keks, damit sie etwas hatte, worauf sie während des Starts herumknabbern konnte. Als sie, erschreckt vom Lärm des Flugzeugs und dem veränderten Druck, aufquietschte, drückte ich ihr den Stofffetzen in die Hand, presste sie eng an mich und versprach ihr, dass wir bald zu Hause wären.
»Hat dir das wehgetan, mein Schatz?«, flüsterte ich ihr ins Ohr und rieb daran. Sam sah erst hoch und blickte mir dann so tief in die Augen wie nie zuvor, bevor sie wieder wegsah, als ob sie sagen wollte:
War halb so schlimm.
Als wir endlich wieder amerikanischen Boden unter den Füßen hatten, konnte ich meine Gefühle kaum im Zaum halten. Mir entwich ein glückseliges Quietschgeräusch, nach dem sich die Mitreisenden umdrehten. Tränen strömten über mein Gesicht, als ich das Schild sah, mit dem Amerika Heimkehrer und Besucher willkommen hieß:
The U.S. Customs Service Welcomes You to the United States
. Dann ging es durch den Zoll, anschließend holten wir unser Gepäck. Beim Anblick von Claire, meiner normalerweise so beherrschten Schwester, musste ich schon wieder losheulen, vor allem, als ich sah, dass auch ihr die Tränen in Strömen die Wangen hinunterliefen. Wir fielen uns in die Arme, obwohl sie Maura an der Hüfte trug und ich Sam. Danach waren Wimperntusche und Lippenstift völlig verschmiert und wir weinten beide vor lauter Glück.
»Sieh uns Heulsusen bloß mal an«, schluchzte Claire und wischte sich die Augen ab.
»Ja, aber das wurde auch langsam Zeit, dass wir zusammen heulen!«, brachte ich hervor.
TEIL 3
KAPITEL 16
An Heiligabend, zwei Tage später, trafen wir uns alle bei Claire. Das ganze Haus war exquisit dekoriert, als hätte Martha Stewart höchstpersönlich den Zauberstab geschwungen. An einer drei Meter hohen Tanne hing eine Lichterkette ebenso wie am Treppengeländer, und im ganzen Haus verteilt standen Adventskränze. Auf jedem Tisch stand eine Schüssel mit Süßigkeiten. Der Eierlikörpunsch köchelte am Herd vor sich hin. Die Socken für die Geschenke hingen am Kamin und einer stach mir besonders ins Auge: der, auf den der Name
Samantha
gestickt worden war.
Davis und Delia waren auch zu Gast, ebenso wie Martha, Ross’ Mutter. Maura wirbelte mit der Energie eines Kindes, das mindestens ein Pfund Bonbons verdrückt hatte, durch das ganze Haus. Ich saß mit Sam vor dem Weihnachtsbaum. Da sie die Kerzen völlig entrückt betrachtete, beschloss ich, sie eine Weile damit allein zu lassen. Claire hatte die vor langer Zeit gekauften und vor Maura versteckten Geschenke für Sam unter den Baum gelegt: einen Schaukelstuhl, eine Lauflernhilfe, einen Türhopser. Ich hob Sam in das Gehfrei und sie hing in ihrem Geschirr und wandte keinen Blick von dem funkelnden Weihnachtsschmuck.
»Na, wie findest du den Baum?«, fragte ich sie und strich mit meinem Finger ihre Wange entlang.
Ich musste an Amy DePalmas Warnung denken, Sam nicht mit Reizen zu überfluten. »Diese Kinder brauchen Regeln und Klarheit«, hatte sie mir erzählt. »Gib ihr keine Kiste, die randvoll mit Spielsachen gefüllt ist und beim Füttern kein Auswahlmenü! Das ist mein voller Ernst, Helen. In ihrem Zimmer sollte nur ihr Bettchen stehen, sonst nichts. Denn mehr ist sie nicht gewohnt. Alles andere würde sie bloß überfordern.«
Ich hatte genickt und ihr zugestimmt, denn wenn jemand darüber Bescheid wusste, dann ja wohl Amy. Aber wie ließ sich Überfluss ausgerechnet zur Weihnachtszeit vermeiden? Ich sah mir den Weihnachtsbaum an. Er stand mitten in einem riesigen Haufen Geschenke, von denen viele für Sam waren, für meine Tochter aus einer chinesischen Provinz, die nur mit einem einzigen Besitztum nach Amerika gekommen war – einem Stofffetzen.
Obwohl wir bei Claire und Ross eingeladen waren, hatte Tim angeboten, das Kochen zu übernehmen. Er hatte Rinderfilet besorgt, das er von allen Seiten anbraten und dann im Ofen fertig garen wollte, bis es medium durch und noch schön saftig war, und dann in Scheiben zu Filet Mignon geschnitten zu servieren gedachte. Sam war mehr als begeistert von der Weihnachtsdekoration und auch von Maura, ihrer neuen Cousine, die wie wild um sie herumtanzte. Ich ging in die Küche, wo ich ein
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