Toechter Aus Shanghai
krank?«
»Ich habe es dir gerade gesagt, Pearl. Ihr müsst zuhören und mir gehorchen. Ich bin der Vater, und ihr seid meine Töchter. So ist das nun einmal.«
Wenn ich ihm doch nur klarmachen könnte, wie absurd sich das anhört!
»Ohne mich!«, ruft May entrüstet.
Ich versuche es mit Argumenten. »Die Feudalherrschaft ist vorbei. Es ist nicht mehr so wie damals, als du und Mama geheiratet habt.«
»Deine Mutter und ich wurden im zweiten Jahr der Republik verheiratet«, sagt er missgelaunt, aber darauf kommt es jetzt nicht an.
»Trotzdem war eure Ehe arrangiert«, entgegne ich. »Hast du Anfragen von Heiratsvermittlerinnen beantwortet, die wissen wollten, wie gut wir stricken, nähen oder sticken können?« Ich höre mich zunehmend höhnisch an. »Und hast du mir für die Mitgift einen Nachttopf gekauft, der mit Drachen- und Phönix-Motiven bemalt ist, als Symbol für die Vollkommenheit meiner Ehe? Gibst du May einen Nachttopf voll roter Eier, als Botschaft für ihre Schwiegereltern, dass sie viele Söhne bekommen wird?«
»Du kannst sagen, was du willst.« Baba zuckt gleichgültig mit den Achseln. »Ihr heiratet.«
»Ohne mich!«, wiederholt May. Tränen konnte sie schon immer gut einsetzen, und die ersten fließen bereits. »Du kannst mich nicht zwingen.«
Als Baba sie ignoriert, wird mir klar, wie ernst die Lage ist. Er schaut mich an, als sähe er mich zum ersten Mal.
»Erzählt mir nicht, ihr hättet gedacht, ihr könntet aus Liebe heiraten.« Das hört sich merkwürdig grausam und triumphierend an. »Kein Mensch heiratet aus Liebe. Ich hab’s jedenfalls nicht getan.«
Jemand atmet scharf ein. Ich drehe mich um. Meine Mutter, noch in ihrer Schlafhose, steht in der Tür. Auf ihren gebundenen Füßen schwankt sie durchs Zimmer und sinkt auf einen geschnitzten Birnenholzstuhl. Sie verschränkt die Finger ineinander und richtet den Blick nach unten. Kurz darauf fallen ihr Tränen auf die gefalteten Hände. Keiner sagt etwas.
Ich setze mich so aufrecht wie möglich, damit ich auf meinen Vater hinabblicken kann, wie er es hasst. Dann nehme ich Mays Hand. Zusammen sind wir stark, und wir haben ja noch das Geld, das er für uns angelegt hat.
»Ich spreche für uns beide, wenn ich mit allem Respekt um das Geld bitte, das du für uns investiert hast.«
Mein Vater verzieht das Gesicht.
»Wir sind alt genug, um auf eigenen Füßen zu stehen«, fahre ich fort. »May und ich nehmen uns eine Wohnung. Wir werden uns eigenes Geld verdienen. Wir wollen unsere Zukunft selbst bestimmen.«
May nickt, während ich rede, und lächelt Baba an, aber sie sieht dabei nicht so hübsch aus wie sonst. Ihr Gesicht ist fleckig und geschwollen von den Tränen.
»Ich will nicht, dass ihr Mädchen ganz auf euch allein gestellt seid«, flüstert Mama, nachdem sie ihren Mut zusammengenommen hat.
»Dazu kommt es sowieso nicht«, sagt Baba. »Es ist kein Geld da - weder eures noch meines.«
Wieder tritt verblüfftes Schweigen ein. Meine Schwester und meine Mutter überlassen es mir zu fragen: »Was hast du gemacht?«
In seiner Verzweiflung schiebt Baba uns die Schuld für seine Probleme zu. »Eure Mutter macht Besuche und spielt mit ihren Freundinnen. Ihr beide werft das Geld zum Fenster raus. Keiner von euch sieht, was direkt vor eurer Nase passiert.«
Er hat recht. Erst gestern Abend habe ich noch gedacht, dass unser Haus irgendwie heruntergekommen wirkt. Ich habe mich gefragt, wo der Lüster sein mochte, die Wandlampen, der Deckenventilator und…
»Wo sind unsere Dienstboten? Wo sind Pansy, Ah Fong und …«
»Ich habe sie entlassen. Sie sind alle weg, bis auf den Gärtner und Koch.«
Die beiden konnte er natürlich nicht gehen lassen. Die Pflanzen im Garten würden rasch verdorren, und unsere Nachbarn würden merken, dass etwas nicht stimmt. Und Koch brauchen wir unbedingt. Mama kann nur die Aufsicht führen. May und ich können kein einziges Gericht kochen. Wir haben uns nie damit beschäftigt. Wir hätten nie gedacht, dass es eines Tages nötig wäre. Aber der Junge, Babas Hausdiener, die zwei Mädchen und die Küchenhilfe? Wie konnte Baba so vielen Leuten wehtun?
»Hast du alles verspielt? Gewinn es doch zurück, Herrgott noch mal«, fauche ich. »Sonst schaffst du das doch auch immer.«
Mein Vater mag in der Öffentlichkeit als wichtiger Mann gelten, aber in meinen Augen war er schon immer unnütz und schwach. Wie er mich jetzt anschaut … ich kann in ihm lesen wie in einem offenen Buch.
»Wie schlimm ist
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