Toechter Aus Shanghai
es?« Ich bin wütend - ist das ein Wunder? -, aber langsam verspüre ich leises Mitgefühl für meinen Vater und, mehr noch, für meine Mutter. Was wird mit ihnen geschehen? Was wird aus uns allen werden?
Er senkt den Kopf. »Das Haus. Der Rikschabetrieb. Euer Geld.
Meine geringen Ersparnisse. Alles ist weg.« Irgendwann blickt er zu mir auf, Hoffnungslosigkeit, Elend und Verzweiflung in den Augen.
»Es gibt kein glückliches Ende«, sagt Mama. Es scheint, als wären all ihre düsteren Vorhersagen letztendlich eingetroffen. »Gegen das Schicksal kann man nicht ankämpfen.«
Baba ignoriert Mama und appelliert an meinen Respekt gegenüber den Eltern und an meine Pflicht als älteste Tochter. »Willst du, dass deine Mutter auf der Straße betteln muss? Und was ist mit euch beiden? Als Kalendermädchen seid ihr schon nahe daran, Mädchen mit drei Löchern zu werden. Da stellt sich nur noch die Frage: Wird es ein einzelner Mann sein, der euch aushält, oder fallt ihr so tief wie die Huren, die in der Blood Alley nach ausländischen Seeleuten Ausschau halten? Was für eine Zukunft wollt ihr?«
Ich bin zwar gebildet, aber was kann ich schon? An drei Vormittagen die Woche gebe ich einem japanischen Hauptmann Englischunterricht. May und ich sitzen Malern Modell, aber unser Verdienst deckt noch nicht einmal ansatzweise die Kosten für unsere Kleider, Hüte, Handschuhe und Schuhe. Ich will nicht, dass jemand von uns betteln gehen muss. Und ganz sicher will ich nicht, dass May und ich Prostituierte werden. Egal, was passiert, ich muss meine Schwester beschützen.
»Was sind das denn für Ehemänner?«, frage ich. »Können wir sie vorher kennenlernen?«
May bekommt große Augen.
»Das ist gegen die Tradition«, sagt Baba.
»Ich heirate niemanden, den ich nicht vorher gesehen habe.« Ich schalte auf stur.
»Du glaubst ja wohl nicht, dass ich das mache«, sagt May, doch ihre Stimme verrät uns, dass sie innerlich bereits nachgegeben hat. Wir wirken und handeln zwar in vielerlei Hinsicht modern, aber wir können nicht aus unserer Haut: Wir sind gehorsame chinesische Töchter.
»Es sind Männer vom goldenen Berg«, sagt Baba. »Amerikaner. Sie sind nach China gekommen, um sich eine Braut zu suchen. Eigentlich sind das doch gute Nachrichten. Die Familie ihres Vaters stammt aus demselben Bezirk wie unsere. Wir sind so gut wie verwandt. Ihr müsst eure Ehemänner nicht nach Los Angeles begleiten. Amerika-Chinesen sind zufrieden, wenn ihre Ehefrauen in China bleiben und sich um ihre Eltern und Vorfahren kümmern, während sie selbst zu ihren blonden lo-fan -Geliebten nach Amerika zurückkehren können. Betrachtet es einfach nur als ein Geschäft, das unsere Familie retten wird. Aber wenn ihr beschließt, mit euren Männern zu gehen, dann werdet ihr ein schönes Haus haben, Dienstboten, die putzen und waschen, Amahs, die sich um eure Kinder kümmern. Ihr werdet in Haolaiwu leben - in Hollywood. Ich weiß doch, wie gerne ihr Mädchen Filme mögt. Es würde dir gefallen, May. Ganz sicher. Haolaiwu! Stell dir das vor!«
»Aber wir kennen sie doch gar nicht!«, schreit May ihn an.
»Ihren Vater schon«, antwortet Baba ruhig. »Ihr kennt den Alten Herrn Louie.«
May verzieht vor Abscheu den Mund. Den Mann haben wir in der Tat kennengelernt. Ich mochte Mamas altmodische Anreden noch nie, doch für May und mich war der drahtige Auslandschinese mit dem ernsten Gesicht trotzdem immer der Alte Herr Louie. Er lebt, wie Baba schon sagte, in Los Angeles, kommt jedoch etwa einmal im Jahr nach Shanghai und kümmert sich um seine hiesigen Geschäfte. Er besitzt eine Fabrik für Rattanmöbel und eine, in der billiges Porzellan für den Export hergestellt wird. Aber es ist mir egal, wie reich er ist. Mir hat nie gefallen, wie der Alte Herr Louie May und mich anschaut: wie eine Katze, die uns aufschlecken will. Dabei geht es mir nicht um mich. Ich kann das vertragen, doch May war erst sechzehn, als er das letzte Mal in der Stadt war. In seinem Alter - er muss damals mindestens Mitte sechzig gewesen sein -, hätte er sie nicht so mit den Augen verschlingen sollen. Baba hat nie auch nur ein Wort gesagt, sondern May nur gebeten, Tee nachzuschenken.
In dem Moment begreife ich es. »Hast du alles an den Alten Herrn Louie verloren?«
»Nicht ganz...«
»An wen dann?«
»So was ist immer schwer zu sagen.« Baba trommelt mit den Fingern auf den Tisch und schaut weg. »Ich habe überall verloren, hier ein bisschen, da ein bisschen.«
»Das
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