Toechter Aus Shanghai
glaube ich gerne, nachdem du auch das Geld von May und mir verspielt hast. Du musst Monate dafür gebraucht haben … vielleicht sogar Jahre...«
»Pearl …« Meine Mutter möchte verhindern, dass ich noch mehr sage, aber die Wut in mir verschafft sich lautstark Gehör.
»Du musst ja wahnsinnig viel verloren haben. So viel, dass all das hier auf dem Spiel steht.« Mit einer Armbewegung deute ich auf das Zimmer, die Möbel, das Haus, all das, was mein Vater für uns geschaffen hat. »Wie hoch sind deine Schulden genau, und wie willst du sie zurückzahlen?«
May hört auf zu weinen. Meine Mutter schweigt.
»Ich habe alles an den Alten Herrn Louie verloren«, gibt Baba schließlich widerwillig zu. »Er lässt eure Mutter und mich weiter im Haus wohnen, wenn May den jüngeren Sohn heiratet und du den älteren Sohn. Wir haben ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen, bis ich Arbeit finde. Ihr, unsere Töchter, seid unser einziges Kapital.«
May schlägt die Hand vor den Mund, springt auf und läuft aus dem Zimmer.
»Sag deiner Schwester, dass ich für heute Nachmittag ein Treffen vereinbaren werde«, gibt Baba nach. »Ihr könnt dankbar sein, dass ich Ehen mit zwei Brüdern arrangiert habe. Ihr werdet immer zusammen sein. Und jetzt geh nach oben. Deine Mutter und ich haben viel zu besprechen.«
Die Frühstücksverkäufer draußen vor dem Fenster sind weitergezogen und werden durch einen Strom von Hausierern abgelöst. Ihre singenden Stimmen locken und verführen uns.
» Pu, pu, pu , Rotwurz für strahlende Augen! Gebt es eurem Kind, dann bekommt es im Sommer keinen Ausschlag!«
» Hou, hou, hou , Rasieren, Haareschneiden, Nägelschneiden!«
» A-hu-a, a-hu-a , kommt heraus und verkauft mir euren Trödel! Ausländische Flaschen und Glasscherben gegen Streichhölzer!«
Zwei Stunden später gehe ich ins Little-Tokyo-Viertel von Hongkew zum Mittagstermin mit meinem Schüler. Warum ich nicht abgesagt habe? Wenn die Welt zusammenbricht, dann sagt man doch eigentlich ab, oder? Aber May und ich brauchen das Geld.
Wie betäubt fahre ich mit dem Aufzug zur Wohnung von Hauptmann Yamasaki hinauf. Er war Mitglied der japanischen Olympiamannschaft von 1932 und denkt daher gerne an die Tage des Ruhms in Los Angeles zurück. Er ist kein schlechter Mensch, aber er ist völlig besessen von May. Sie hat den Fehler gemacht, ein paarmal mit ihm auszugehen, und so beginnt beinahe jede Unterrichtsstunde mit Fragen nach ihr.
»Wo ist denn Ihre Schwester heute?«, fragt er auf Englisch, nachdem wir seine Hausaufgaben durchgesehen haben.
»Sie ist krank«, lüge ich. »Sie schläft.«
»Es tut mir leid, so traurige Nachrichten hören zu müssen. Jeden Tag frage ich Sie, wann Ihre Schwester wieder mit mir ausgeht. Und immer antworten Sie, dass Sie es nicht wissen.«
»Falsch. Wir sehen uns nur dreimal die Woche.«
»Bitte helfen Sie mir, May zu heiraten. Ich gebe Ihnen Hochzeits…«
Er reicht mir ein Blatt Papier, auf dem seine Heiratsbedingungen stehen. Er hat zwar offensichtlich sein Japanisch-Englisch-Lexikon verwendet, aber das ist nun doch zu viel. Und ausgerechnet heute! Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Wir haben noch fünfzig Minuten durchzustehen. Ich falte das Blatt Papier zusammen und stecke es in die Handtasche.
»Ich werde es korrigieren und es Ihnen bei unserer nächsten Stunde wiedergeben.«
»Geben Sie May!«
»Ich werde es ihr geben, aber Sie müssen wissen, dass sie zu jung ist, um zu heiraten. Mein Vater wird das nicht erlauben.« Wie leicht mir die Lügen über die Lippen gehen.
»Er sollte aber. Er muss es. Wir leben in einer Zeit der Freundschaft, der Kooperation und des gemeinsamen Wohlstands. Die asiatischen Rassen sollten sich gegen den Westen vereinen. Chinesen und Japaner sind Brüder.«
Wohl kaum. Wir bezeichnen die Japaner als Zwergbanditen und Affenvolk. Doch der Hauptmann kommt häufig auf dieses Thema zurück, und er hat sich diese Parolen auf Englisch und Chinesisch gut gemerkt.
Er schaut mich missmutig an. »Sie werden ihr das gar nicht geben, oder?« Als ich nicht schnell genug antworte, runzelt er die Stirn. »Ich traue chinesischen Mädchen nicht. Sie lügen immer.«
Das hat er schon öfter zu mir gesagt, und es gefällt mir heute auch nicht besser als sonst.
»Ich lüge Sie nicht an«, sage ich, obwohl ich es selbst in dieser Unterrichtsstunde schon mehrmals getan habe.
»Chinesische Mädchen halten ihre Versprecher nie. Sie lügen in Herzen.«
»Versprechen. Und im
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