Toechter Aus Shanghai
Herzen«, korrigiere ich ihn. Ich muss das Gespräch auf ein anderes Thema lenken. Heute fällt es mir nicht schwer. »Hat es Ihnen in Los Angeles gefallen?«
»Es war sehr schön. Ich gehe bald zurück nach Amerika.«
»Nehmen Sie wieder an einem Schwimmwettkampf teil?«
»Nein.«
»Dann als Student?«
»Als...« Er wechselt wieder ins Chinesische und benutzt ein Wort, das er in unserer Sprache sehr gut kennt. »Als Eroberer.«
»Ach, wirklich? Wie soll das gehen?«
»Wir marschieren in Washington ein«, antwortet er, nun wieder auf Englisch. »Yankee-Mädchen werden uns die Wäsche waschen.«
Er lacht. Ich lache. Und so geht es weiter.
Sobald die Stunde vorüber ist, nehme ich mein spärliches Honorar in Empfang und gehe nach Hause. May schläft. Ich krieche neben sie ins Bett, lege ihr die Hand auf die Hüfte und schließe die Augen. Ich möchte schlafen, aber mir gehen ständig Bilder und Gedanken durch den Kopf. Ich dachte, ich wäre modern. Ich dachte, ich hätte Entscheidungsfreiheit. Ich dachte, ich wäre ganz anders als meine Mutter. Doch mein Vater hat das mit seinem Glücksspiel alles zunichte gemacht. Ich soll verkauft werden - wie schon viele Mädchen vor mir -, um meiner Familie zu helfen. Ich fühle mich so gefangen und hilflos, dass ich kaum Luft bekomme.
Ich versuche mir einzureden, dass es gar nicht so schlimm steht, wie es aussieht. Mein Vater hat sogar gesagt, dass May und ich mit diesen Fremden nicht in eine Stadt auf der anderen Seite der Welt gehen müssen. Wir können die Papiere unterschreiben, unsere »Ehemänner« fahren wieder ab, und das Leben geht weiter wie gewohnt, bis auf einen großen Unterschied. Wir müssen aus dem Haus unseres Vaters ausziehen und uns unseren Lebensunterhalt selbst verdienen. Ich werde warten, bis mein Ehemann aus China ausreist, dann geltend machen, er hätte mich verlassen, und die Scheidung einreichen. Danach heirate ich Z. G. (es wird eine kleinere Hochzeit werden müssen, als ich mir immer vorgestellt habe - vielleicht einfach eine Party in einem Café mit unseren Künstlerfreunden und ein paar anderen Kalendermädchen). Für tagsüber besorge ich mir eine richtige Arbeit. May wohnt bei uns, bis sie heiratet. Wir kümmern uns umeinander. Wir werden unseren Weg machen.
Ich setze mich auf und reibe mir die Schläfen. Meine Träume haben mich ganz verwirrt. Vielleicht lebe ich schon zu lange in Shanghai.
Sanft rüttle ich meine Schwester an der Schulter. »Wach auf, May!«
Sie öffnet die Augen, und einen kurzen Moment lang sehe ich
all die Sanftmut und den Liebreiz, den sie schon seit ihrer Kindheit in sich trägt. Als ihr alles wieder einfällt, werden ihre Augen dunkel.
»Wir müssen uns fertig machen«, sage ich. »Gleich treffen wir uns mit unseren Ehemännern.«
Was sollen wir anziehen? Die Louie-Söhne sind Chinesen, daher sollten wir vielleicht traditionelle cheongsams nehmen. Gleichzeitig sind sie jedoch Amerikaner, daher wäre es vielleicht besser, etwas zu wählen, das zeigt, dass uns der westliche Stil ebenfalls nicht fremd ist. Wir müssen ihnen ja nicht gefallen, aber wir dürfen das Geschäft auch nicht platzen lassen. Wir wählen geblümte Rayonkleider. May und ich wechseln Blicke, zucken mit den Achseln, weil alles so sinnlos ist, und gehen aus dem Haus.
Wir winken einem Rikschafahrer und sagen ihm, er soll uns an den Ort bringen, den mein Vater für das Rendezvous ausgewählt hat: das Tor zum Yu-Yuan-Garten im Zentrum der chinesischen Altstadt. Der Fahrer - sein Kahlkopf ist von Eiterflechte vernarbt - zieht uns in der Hitze durch die Menschenmengen auf der Waibaidu-Brücke über den Soochow und am Bund entlang, vorbei an Diplomaten, Schulmädchen in gestärkten Uniformen, Prostituierten, feinen Herren und ihren Damen sowie Mitgliedern der berüchtigten Grünen Bande in schwarzen Mänteln. Gestern kam uns diese Mischung noch interessant vor. Heute wirkt sie schäbig und bedrückend.
Der Whangpoo fließt gemächlich links an uns vorbei wie eine träge Schlange, seine schmierige Haut hebt sich, schimmert ölig, pulsiert. In Shanghai kann man dem Fluss nicht entkommen. An ihm endet jede nach Osten führende Straße der Stadt. Auf dieser großen Flussschlange schwimmen Kriegsschiffe aus Großbritannien, Frankreich, Japan, Italien und den Vereinigten Staaten. Sampans - behängt mit Seilen, Wäsche und Netzen - tummeln sich wie Insekten auf einem Kadaver. Fäkaliensammelboote kämpfen zwischen den Tendern der Ozeandampfer und
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