Toechter Aus Shanghai
zum Fuße des Steingartens hinunter und ruft den Jungen leise, damit er zurückkommt. Ich glaube nicht, dass er sie versteht, denn er bleibt dort oben, sieht ein bisschen aus wie ein Pirat auf See. Sam und ich gehen weiter, bis wir zum Kostbaren Jadefelsen kommen.
»Ich war schon einmal hier«, murmelt er zaghaft auf Sze Yup. »Weißt du, wie der Stein hierhergekommen sein soll?«
Ich verschweige ihm, dass ich die chinesische Altstadt normalerweise meide. Stattdessen versuche ich höflich zu sein und sage: »Setzen wir uns doch, dann kannst du es mir erzählen.«
Wir finden eine Bank und betrachten den Felsblock, der mir völlig unspektakulär vorkommt.
»Während der Nördlichen Sung-Dynastie hatte Kaiser Hui Tsung großen Gefallen an Kuriositäten gefunden. Er schickte Gesandte durch die südlichen Provinzen, um die besten Exemplare im Land aufzustöbern. Sie entdeckten diesen Felsen und luden ihn auf ein Schiff. Aber er gelangte nie bis zum Palast. Ein Sturm - vielleicht ein Taifun, vielleicht waren es aber auch wütende Flussgötter - versenkte das Schiff im Whangpoo.«
Sam hat eine recht angenehme Stimme - nicht zu laut, herrisch oder arrogant. Während er spricht, schaue ich auf seine Füße. Er streckt die Beine von sich, das Gewicht ruht auf den Fersen seiner neuen Lederschuhe. Ich fasse den Mut, von diesen Füßen hinauf zu seinem Gesicht zu blicken. Hässlich ist er nicht. Ich würde sogar behaupten, dass er gut aussieht. Er ist relativ dünn. Sein Gesicht ist lang wie ein Reiskorn, was seine scharfen
Wangenknochen betont. Sein Teint ist ein wenig zu dunkel für meinen Geschmack, aber das ist verständlich. Er kommt aus Hollywood. Ich habe gelesen, dass Filmstars gerne sonnenbaden, bis sich ihre Haut braun färbt. Seine Haare sind nicht ganz schwarz. Im Sonnenlicht schimmern sie leicht rötlich. Man sagt, diese Haarfarbe kommt bei Menschen vor, die zu arm sind, um sich richtig zu ernähren. Vielleicht ist das Essen in Amerika so reichhaltig und nahrhaft, dass es ebenfalls genau diese Veränderung bewirkt. Sam ist flott gekleidet. Selbst ich erkenne, dass sein Anzug erst vor Kurzem geschneidert wurde. Und er ist Teilhaber im Geschäft seines Vaters. Wäre ich nicht schon in Z. G. verliebt, dann wäre Sam gar nicht so uninteressant.
»Die Familie Pan hat den Fels aus dem Fluss gezogen und hierhergebracht«, fährt Sam fort. »Man sieht, dass er alle Anforderungen an einen guten Felsen erfüllt. Er ist porös wie ein Schwamm, hat eine ansprechende Form und erinnert an seine jahrtausendealte Geschichte.«
Dann schweigt er wieder. In der Ferne umrundet May den Steingarten, die Hände in die Hüften gestemmt, und ihre Verärgerung ist bis zu uns herüber zu spüren. Sie ruft ein letztes Mal hinauf, dann sucht sie mich. Resigniert hebt sie die Hände und kommt auf uns zu.
Neben mir sagt Sam: »Du gefällst mir. Gefalle ich dir auch?«
Nicken scheint mir die beste Antwort zu sein.
»Gut. Dann sage ich meinem Vater, dass wir zusammen glücklich werden.«
Kaum haben wir Sam und Vern zum Abschied zugewunken, halte ich eine Rikscha an. May steigt ein, aber ich bleibe stehen.
»Fahr du schon mal nach Hause«, sage ich zu ihr. »Ich habe noch etwas zu erledigen. Ich komme später nach.«
»Aber ich muss mit dir reden.« May umklammert die Armlehnen der Rikscha so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß werden. »Dieser Junge hat kein Wort zu mir gesagt.«
»Du sprichst kein Sze Yup.«
»Daran liegt es nicht allein. Er ist wie ein kleiner Junge. Er ist ein kleiner Junge.«
»Das macht nichts, May.«
»Du hast gut reden. Schließlich hast du den Hübschen abbekommen.«
Ich versuche ihr zu erklären, dass es eine rein geschäftliche Angelegenheit ist, aber sie mag mir nicht zuhören. Sie stampft mit dem Fuß auf, und der Rikschafahrer hat alle Mühe, das Gefährt im Gleichgewicht zu halten.
»Ich will ihn nicht heiraten! Wenn es unbedingt sein muss, dann gib mir Sam!«
Ich seufze ungeduldig. Diese aufflackernde Eifersucht und Sturheit sind typisch für May, doch so harmlos wie Regen an einem Sommertag. Meine Eltern und ich wissen, dass man ihr am besten den Willen lässt, bis alles verflogen ist.
»Darüber reden wir später. Wir sehen uns zu Hause.« Ich nicke dem Fahrer zu, der die Rikscha anhebt und auf seinen nackten Füßen über die gepflasterte Straße trabt. Als sie um die Ecke gebogen sind, gehe ich zum Alten Westtor und steige dort in eine andere Rikscha. Ich nenne dem Fahrer Z. G.s Adresse
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