Toechter Aus Shanghai
haben.«
Auch ich finde, dass sie jedes Recht haben, hier zu sein, Angst sollten sie jedoch trotzdem haben. Ich versuche, den Tonfall nachzuahmen, in dem ich Joy vor Jungen gewarnt habe: gelassen, wenn auch ernst.
»Ihr müsst aber wirklich vorsichtig sein. Manche Menschen schauen euch an und sehen nur Mädchen mit gelber Haut und roter Gesinnung.« Ich runzele die Stirn. »Versteht ihr, was ich meine?«
»Ja«, antwortet Joy. »Darüber haben wir in der Schule mit unserer Lehrerin gesprochen. Sie sagt, dass einige Leute wegen unseres Aussehens in uns den Feind sehen, obwohl wir amerikanische Staatsbürger sind.«
Als ich das höre, wird mir klar, dass ich meine Tochter noch viel besser beschützen muss. Doch wie? Ich habe nie gelernt, wie man sich gegen böse Blicke oder Pöbeleien auf dem Bürgersteig wehrt.
»Geht zusammen zur Schule und nach Hause, wie ich es euch gesagt habe«, mahne ich. »Macht immer schön eure Hausaufgaben und...«
»Das ist typisch deine Mutter«, sagt May. »Sorgen, Sorgen, Sorgen. Unsere Mama war genauso. Aber seht uns doch an!« Sie greift über den Tisch und nimmt die Hände der Mädchen. »Alles wird gut. Ihr dürft nie das Gefühl haben, dass ihr verbergen müsst, wer ihr seid. Es führt zu nichts Gutem, wenn man solche Geheimnisse hat. So, und jetzt macht eure Aufgaben fertig, damit wir Eis essen gehen können.«
Die Mädchen lächeln. Während der Arbeit an ihrem Projekt unterhält sich May mit ihnen, weist sie an, die im Artikel angesprochenen Punkte zu hinterfragen. Vielleicht ist Mays Haltung die richtige. Vielleicht sind die Mädchen zu jung, um solche Angst zu haben. Und vielleicht werden sie mehr Ahnung von den Ereignissen um sie herum haben als May und ich damals in Shanghai, wenn sie ihren Bericht über die aktuellen Geschehnisse verfassen. Aber ich bin gar nicht begeistert davon. Nicht im Geringsten.
Am Abend öffnet Vater Louie nach dem Essen den Brief aus dem Dorf Wah Hong. »Wir brauchen nichts von dir. Dein Geld wird nicht benötigt«, steht darin.
»Glaubt ihr, der ist echt?«, fragt Sam.
Vater Louie reicht den Brief an Sam weiter, der ihn gründlich untersucht, ehe er ihn mir gibt. Das Schriftbild ist einfach und klar. Das Papier sieht ebenso zerknittert aus wie das der bisherigen Briefe.
»Die Unterschrift ist identisch«, sage ich und gebe den Brief Yen-yen.
»Der muss echt sein«, sagt sie. »Der hat eine lange Reise hinter sich, um hierherzukommen.«
Eine Woche später erfahren wir, dass dieser Cousin bei einem Fluchtversuch gefasst und getötet wurde.
Ich rede mir ein, dass ein Drache nicht so viel Angst haben sollte. Doch ich kann nichts daran ändern. Wenn hier etwas passiert - und mir dreht sich der Kopf vor lauter Gefahren -, wüsste ich nicht, was ich tun sollte. Amerika ist unsere Heimat, und ich befürchte jeden Tag, dass die Regierung eine Möglichkeit ersinnt, uns aus dem Land zu werfen.
Kurz vor Weihnachten erhalten wir einen Räumungsbeschluss. Wir brauchen einen neuen Ort zum Leben. Sam und ich könnten noch mehr Geld für Joy sparen und eine Wohnung nur für uns drei mieten, aber das Einzige, was wir haben - unsere Kraft -, kommt von unserer Familie. Diese Einstellung ist altmodisch chinesisch, doch Yen-yen, Vater, Vern und Sam sind die einzigen Menschen, die May und ich auf der Welt noch haben. Alle außer Vern und Joy geben Geld dazu, und ich bekomme den Auftrag, ein neues Heim für uns zu suchen.
Es ist gar nicht lange her, da zog ich voller Optimismus wegen der bevorstehenden Geburt unseres Sohnes los und suchte nach einem Haus für Sam und mich. Aber die Immobilienmakler wiesen mich ab und wollten mir ihre Häuser nicht zeigen, obwohl die Gesetze geändert worden waren. Ich hatte mit Chinesen gesprochen, die sich ein Haus gekauft hatten und über Nacht eingezogen waren, nur um festzustellen, dass ihnen Müll in die Gärten geworfen wurde. Damals sagte Sam, er würde nur dahin gehen, »wo wir akzeptiert werden«. Wir sind Chinesen, und wir wollen als Familie mit drei Generationen unter einem Dach leben. Ich kenne nur einen Ort, wo man uns voll und ganz akzeptiert: Chinatown.
Ich entdecke einen kleinen Bungalow in einer Nebenstraße der Alpine Street und bringe in Erfahrung, dass er zwei Badezimmer, drei kleine Schlafzimmer und eine verglaste Veranda hat, auf der man ebenfalls schlafen kann. Ein mit Cécile-Brunner-Rosen
überwachsener niedriger Maschendrahtzaun umgibt das Grundstück. Ein großer Pfefferbaum im Garten
Weitere Kostenlose Bücher