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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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hinwegspülen«, dem alten Mann ein langes Leben nach dem Tod bescheren, uns auf die Reise des Heilens bringen und uns ermutigen soll, die Nebel des Todes zurückzulassen, ehe wir nach Hause gehen.
    In den folgenden drei Monaten, der offiziellen Trauerzeit, kommen Frauen zu uns ins Haus, um mit May und mir Domino zu spielen. Ich merke, dass ich die Bilder betrachte, die ich über Vaters Sessel an die Wand gepinnt habe. Irgendwie kann ich sie nicht abnehmen.

ALLES GOLD DER WELT
    Warum darf ich nicht mit?«, quengelt Joy und wird lauter. »Tante Violet und Onkel Rowland haben es Leon auch erlaubt.«
    »Leon ist schließlich ein Junge«, sage ich.
    »Es kostet nur fünfundzwanzig Cent. Bitte! «
    »Dein Vater und ich finden, dass es nicht richtig ist, wenn ein Mädchen in deinem Alter allein durch die Stadt...«
    »Ich bin doch nicht allein. Die anderen gehen auch hin.«
    »Du bist nicht die anderen«, sage ich. »Willst du, dass die Leute glauben, du seist gesprungenes Porzellan? Du musst deinen Körper behüten wie ein Stück Jade.«
    »Mom, ich will doch nur zum Sock Hop in der International Hall.«
    Yen-yen sagte manchmal, dass man sich für alles Gold der Welt keine Zeit kaufen könne, doch erst seit Kurzem beginne ich zu verstehen, wie kostbar die Zeit ist und wie schnell sie vergeht. Es ist 1956, der Sommer nach Joys Highschool-Abschluss. Im Herbst wird sie zur Universität nach Chicago gehen und dort Geschichte studieren. Das ist schrecklich weit weg, aber wir haben uns entschieden, sie ziehen zu lassen. Die Studiengebühren sind höher, als wir erwartet haben, doch Joy bekommt ein Teilstipendium, und May hilft auch noch mit aus. Jeden Tag fragt Joy, ob sie hierhin oder dahin gehen dürfe. Wenn ich Ja sage zu diesem Sock Hop - was auch immer das ist -, dann muss ich sie beim nächsten Mal auch gehen lassen: zum Tanz mit dem Fünfzehn-Mann-Orchester, zur Geburtstagsfeier im MacArthur Park, zur Party, die man nur mit dem Bus erreicht.
    »Was glaubst du eigentlich, was da passiert?«, fragt mich Joy.
Sie gibt nicht auf. »Wir wollen uns nur Schallplatten anhören und ein bisschen tanzen.«
    So was haben May und ich auch immer behauptet, als wir in Shanghai lebten, und es ist uns beiden nicht besonders gut bekommen.
    »Du bist noch nicht alt genug für Jungen«, sage ich.
    »Nicht alt genug? Ich bin achtzehn! Tante May hat Onkel Vern geheiratet, als sie so alt war...«
    Und war bereits schwanger, denke ich.
    Sam hat mich mit dem Vorwurf zu beschwichtigen versucht, ich sei zu streng. »Du machst dir zu viele Sorgen«, sagte er. »Sie nimmt Jungen doch noch gar nicht wahr.«
    Welches Mädchen in Joys Alter nimmt keine Jungen wahr? Ich tat es. May auch. Wenn Joy jetzt Widerworte gibt, meine Anweisungen missachtet oder einfach geht, obwohl ich ihr gesagt habe, sie solle bleiben, lacht mich selbst meine Schwester aus, wenn ich mich aufrege. »Wir haben in dem Alter dasselbe getan.«
    Und du siehst ja, was wir davon hatten , möchte ich ihr ins Gesicht schreien.
    »Ich bin noch nie bei einem Footballspiel oder beim Tanzen gewesen«, beschwert sich Joy weiter. »Die anderen Mädchen waren im Palladium. Sie waren im Biltmore. Ich darf nie irgendwas.«
    »Du musst uns im Café und im Laden helfen. Deine Tante braucht auch deine Hilfe.«
    »Warum soll ich helfen? Ich bekomme doch nie Geld dafür.«
    »Das ganze Geld...«
    »Geht in den Familientopf. Ihr habt dafür gespart, dass ich aufs College gehen kann. Das weiß ich. Ich weiß es. Aber es sind nur noch zwei Monate, bis ich nach Chicago gehe! Willst du nicht, dass ich Spaß habe? Es ist die letzte Möglichkeit für mich, meine Freunde zu sehen.« Joy verschränkt die Arme vor der Brust und seufzt, als hätte sie es am schwersten auf der ganzen Welt.
    »Du kannst alles tun, was du willst, du musst nur gut in der Schule sein. Wenn du nicht zur Schule gehen willst...«

    »... bin ich auf mich allein gestellt«, beendet sie den Satz voller Überdruss.
    Joy ist meine Tochter, ich kann sie nur mit den Augen einer Mutter sehen. Ihr langes schwarzes Haar schimmert blau wie ferne Berge. Ihre Augen haben das tiefe Schwarz eines Sees im Herbst. Sie bekam während der Schwangerschaft nicht genug Nahrung, deshalb ist sie kleiner als May und ich. Dadurch wirkt sie wie ein zartes Wesen aus alter Zeit - geschmeidig wie ein Weidenzweig im Wind, zart wie der Flug der Schwalben -, doch innerlich ist sie ein Tiger. Ich kann versuchen, meine Tochter zu zähmen, doch sie kann ihr innerstes

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