Toechter Aus Shanghai
Wesen nicht verleugnen, so wenig wie ich meines. Seit ihrem Schulabschluss beschwert sie sich über die Kleider, die ich für sie nähe. »Die sind so peinlich«, sagt sie. Ich mache sie aus Liebe. Ich mache sie, weil es in Los Angeles kein Geschäft gibt wie das von Madame Garnet in Shanghai, wo ich mit ihr hingehen könnte, um ihr Kleider auf den Leib schneidern zu lassen. Am meisten regt sich Joy über ihren angeblichen Mangel an Freiheit auf, aber ich weiß, was für Dinge May und ich gemacht haben - besonders May, eigentlich nur May -, als wir jung waren.
Vieles würde anders laufen, wenn Vater Louie noch am Leben wäre. Er ist jetzt seit vier Jahren tot. Sam, Joy und ich hätten Vaters Tod zum Anlass nehmen können auszuziehen, doch das taten wir nicht. Sam hatte Vater ein Versprechen gegeben, als der ihn zu mehr machte als einem schlichten Papiersohn. Ich glaube zwar nicht mehr an die Ahnen, aber Sam brennt Räucherstäbchen für den Alten Herrn ab und opfert ihm Essen und Papierkleider an Neujahr und anderen Feiertagen. Doch abgesehen davon: Wie könnten wir Vern im Stich lassen, der länger lebt, als alle erwartet haben? Wer sollte ihm erklären, dass seine Eltern fort sind, wenn er Tag für Tag nach ihnen fragt? Wie sollten wir May allein lassen mit der Pflege ihres Ehemanns, der Komparsenvermittlung, dem Souvenirladen und der Hausarbeit? Doch das Ganze geht noch tiefer als familiäre Verbundenheit und
gegebene Versprechen. Wir haben einfach immer noch große Angst.
Jeden Tag gibt es schlechte Nachrichten von der Regierung. Der amerikanische Konsul in Hongkong hat den Chinesen vorgeworfen, zu Täuschung und Meineid zu neigen, da es bei uns nicht »die Entsprechung zur westlichen Vorstellung eines Schwurs« gebe. Er behauptet, dass jeder, der in sein Büro komme und in die Vereinigten Staaten wolle, falsche Papiere vorlege. Angel Island ist längst geschlossen, doch der Konsul hat neue Verfahren ersonnen, darunter die Beantwortung hunderter Fragen, das Ausfüllen Dutzender Formulare, das Beibringen von eidesstattlichen Erklärungen, Blutuntersuchungen, Röntgenbildern und Fingerabdrücken, alles, um Chinesen davon abzuhalten, nach Amerika zu gehen. Der Konsul sagt, dass so gut wie jeder bereits in Amerika lebende Chinese - bis zurück zu den Einwanderern vor über hundert Jahren, die als Goldwäscher arbeiteten, und denen vor über achtzig Jahren, die beim Bau der transkontinentalen Eisenbahn halfen - illegal ins Land gekommen sei und man keinem trauen könne. Er wirft uns vor, wir betrieben Drogenhandel, fälschten Ausweise, andere Papiere und amerikanische Dollars, wir würden illegal Sozialleistungen und Veteranengelder kassieren. Darüber hinaus behauptet er, die Kommunisten hätten seit Jahrzehnten Papiersöhne wie Sam, Wilburt, Fred und unzählige andere als Spione nach Amerika geschleust. Jeder einzelne in den Staaten lebende Chinese müsse überprüft werden, fordert der Konsul.
Jahrelang kam Joy von der Schule mit Geschichten über die Schildkröte nach Hause, die den Kindern zeigt, wie sie sich bei einer Atomexplosion zu verhalten haben. Jetzt ist es, als würden wir Tag für Tag in dieser gekrümmten Haltung leben - mit unseren Familien zurückgezogen in unseren Häusern, in der Hoffnung, dass Fenster, Wände und Türen nicht zerstört, verbrannt und zu bitterer Asche werden. Aus all diesen Gründen - aus Liebe zueinander und Angst umeinander - sind wir zusammengeblieben
und haben uns um Ausgeglichenheit und Ordnung bemüht, doch ohne Vater Louie sind wir alle ein wenig haltlos, besonders meine Tochter.
»Du brauchst keine Wäsche für die lo fan zu waschen, ihnen kein Essen zu kochen, nicht ihre Häuser zu putzen oder für sie an die Tür zu gehen«, sage ich. »Du musst auch nicht als Sekretärin oder Verkäuferin arbeiten. Als dein Baba und ich herkamen, konnten wir auf nicht mehr hoffen, als irgendwann unser eigenes Café zu haben und vielleicht eines Tages in einem Haus zu leben.«
»Das habt ihr ja bekommen...«
»Ja, aber du kannst es viel weiter bringen. Als deine Tante und ich damals herkamen, durfte nur eine Handvoll von uns einen Beruf erlernen. Ich kann sie an einer Hand abzählen.« Und das tue ich: »Y. C. Hong, der erste chinesisch-amerikanische Anwalt in Kalifornien, Eugene Choy, der erste chinesisch-amerikanische Architekt in Los Angeles, Margaret Chung, die erste chinesisch-amerikanische Ärztin im Land...«
»Das hast du mir schon tausendmal erzählt...«
»Ich will
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