Toechter Aus Shanghai
Geburtstage aufgeführt, unsere ganze Geschichte steht drin, weil wir ja alle miteinander zu tun haben. Billings wollte wissen, warum ich nicht die Wahrheit über meine vorgeblichen Brüder gesagt hätte, als ich mich freiwillig meldete. Ich habe ihm nichts verraten.«
Er nimmt Marikos Hand. Seine Frau ist bleich vor Angst, wir alle fürchten uns. »Es ist mir egal, wenn sie’s auf uns abgesehen haben«, fährt er fort. »Aber wenn sie sich meine Kinder vornehmen, die hier geboren wurden...« Empört schüttelt er den Kopf. »Letzte Woche kam Bess weinend nach Hause. Ihr Lehrer in der fünften Klasse hat den Kindern einen Film über die kommunistische Bedrohung gezeigt. Darin sah man Russen mit Pelzmützen und Chinesen, die, nun ja, wie wir aussahen. Am Ende des Films sagte der Sprecher zu den Schülern, sie sollten sich beim FBI oder bei der CIA melden, wenn sie jemanden sähen, der verdächtig wirke. Wer in der Klasse sah verdächtig aus? Meine Bess. Jetzt wollen ihre Freundinnen nicht mehr mit ihr spielen. Ich muss mir auch Sorgen machen, was mit Eleanor und Klein-Mamie passiert. Ich sage den Mädchen immer, dass sie nach den First Ladies benannt wurden. Sie brauchen keine Angst zu haben.«
Natürlich müssen sie Angst haben. Wir alle haben Angst.
Wenn man unter Wasser gedrückt wird, denkt man nur daran, Luft zu bekommen. Ich weiß noch, was ich in den Tagen, als unser Leben sich änderte, über Shanghai dachte: Die Straßen, die vorher so aufregend waren, stanken plötzlich nach Fäkalien, schöne Frauen waren auf einmal nur noch Mädchen mit drei Löchern. Durch das ganze Geld und den Wohlstand wirkte plötzlich alles verzweifelt, leichtlebig und oberflächlich. Meine Sicht von Los Angeles und Chinatown in dieser schwierigen, beängstigenden Zeit könnte nicht stärker davon abweichen. Die Palmen,
das Obst und Gemüse in meinem Garten, die Geranien in den Töpfen vor den Geschäften und auf den Veranden scheinen vor Leben zu schimmern und zu schaudern, selbst in der Sommerhitze. Ich blicke die Straßen hinunter, und alles sieht vielversprechend aus. Statt Smog, Korruption und Hässlichkeit sehe ich Erhabenheit, Freiheit, Offenheit. Ich leide darunter, dass die Regierung uns mit diesen furchtbaren und - Gott helfe mir - wahren Anschuldigungen über unseren Aufenthaltsstatus verfolgt, doch noch weniger kann ich den Gedanken ertragen, dass meine Familie und ich diesen Ort verlieren sollen. Ja, es ist nur Chinatown, aber es ist meine Heimat, unsere Heimat.
In diesen Momenten bedauere ich es, mich so viele Jahre nach Shanghai gesehnt zu haben: Ich machte die Stadt zu einer goldenen Erinnerung an Menschen, Orte und Speisen, die, wie Betsy mir so oft geschrieben hat, nicht mehr existieren und die es nie wieder geben wird. Ich schelte mich: Wieso habe ich die ganzen Jahre nicht gesehen, was direkt vor meiner Nase war? Wieso habe ich all das Gute nicht in mich aufgesogen, anstatt Erinnerungen nachzuhängen, die nur Staub und Asche waren?
Voller Verzweiflung rufe ich Betsy in Washington an, um zu fragen, ob ihr Vater irgendetwas für uns tun könne. Obwohl er selbst unter Beobachtung steht und sehr darunter leidet, verspricht Betsy, dass er einen Blick auf Sams Fall werfen wird.
»Mein Vater gebolen San Flancisco-ah«, sagt Sam in seinem schlechten Englisch.
Vier Tage sind vergangen, seit Fred zum Essen bei uns war, und jetzt statten uns Sanders und Billings einen unangekündigten Besuch ab. Sam hockt auf der Kante von Vater Louies Sessel. Die Männer sitzen auf dem Sofa. Ich habe einen Stuhl genommen und wünsche mir, dass Sam mich für sich sprechen ließe. Ich habe dasselbe Gefühl wie vor vielen Jahren, als dieser Gangster von der Grünen Bande May und mir im Salon unserer Familie sein Ultimatum stellte. Das war es jetzt .
»Dann beweisen Sie es. Zeigen Sie mir seine Geburtsurkunde«, fordert Agent Billings.
»Mein Vater gebolen San Flancisco-ah«, wiederholt Sam bestimmt.
» San Flancisco-ah «, äfft Billings ihn nach. »Natürlich in San Francisco, wegen der Erdbeben und Brände. Wir sind nicht dumm, Mr. Louie. Man sagt, jede chinesische Frau, die vor 1906 hier war, hätte fünfhundert Söhne zur Welt bringen müssen - so viele Chinesen sind angeblich in den Vereinigten Staaten geboren. Selbst wenn das durch irgendein Wunder möglich gewesen wäre, wie kann es sein, dass nur Söhne zur Welt kamen und keine Töchter? Wurden die alle umgebracht?«
»Da war ich noch nicht geboren«, erwidert Sam,
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