Toechter Aus Shanghai
habe sie aus dem Müll geholt«, erklärt Mama.
Ich sinke neben May auf den Boden. Ich kann es einfach nicht glauben, dass Mama bereit ist, uns nach Amerika zu schicken, damit die Probleme meiner Eltern gelöst werden. Andererseits machen chinesische Eltern das seit Jahrtausenden mit ihren wertlosen Töchtern - sie lassen sie im Stich, verkaufen und benutzen sie.
Als Mama sieht, wie verlassen und ängstlich wir schauen, fährt sie rasch fort: »Wir tauschen eure Billets ein und fahren alle nach Hongkong. Wir haben drei Tage, um ein Schiff zu finden. Hongkong ist eine britische Kolonie, deshalb müssen wir dort keine Angst vor japanischen Angriffen haben. Wenn wir dann irgendwann feststellen, dass es sicher ist, wieder auf das Festland zurückzukehren, nehmen wir die Fähre oder den Zug nach Kanton. Dann fahren wir nach Yin Bo, dem Heimatdorf eures Vaters.« Mit einem resoluten Klack schlägt ihr Jadearmreif auf den Tisch auf. »Dort findet uns die Gründe Bande nie.«
MONDSCHWESTERN
Am nächsten Morgen machen May und ich uns auf den Weg zum Büro der Dollar Steamship Line. Wir wollen versuchen, unsere Billets - von Shanghai nach Hongkong, von Hongkong nach San Francisco und von San Francisco nach Los Angeles - gegen vier Fahrkarten nach Hongkong zu tauschen. Die Nanking Road und die Gegend um die Rennbahn bleiben abgeriegelt, damit die verstümmelten Leichen und Leichenteile weggeräumt werden können, aber das ist die geringste Sorge, die die Stadt derzeit hat. Weiterhin drängen Tausende und Abertausende von Flüchtlingen herein, um den immer weiter vorrückenden Japanern zu entfliehen. Da viele Säuglinge von ihren verzweifelten Eltern zum Sterben auf der Straße zurückgelassen werden, hat der Chinesische Wohltätigkeitsverein eigene »Babypatrouillen« eingerichtet. Sie sammeln die kleinen Leichen auf, laden sie auf Lastwagen und fahren sie aufs Land, wo sie verbrannt werden.
Während immer mehr Menschen in die Stadt drängen, versuchen Tausende anderer, sie zu verlassen. Viele meiner Landsleute fahren mit dem Zug in ihr Heimatdorf im Landesinneren. Freunde, die wir aus den Cafés kennen - Schriftsteller, Maler, Intellektuelle - treffen Entscheidungen, die ihr restliches Leben bestimmen werden: Sie gehen nach Chungking, das Chiang Kai-shek während des Kriegs zur provisorischen Hauptstadt erklärte, oder nach Yunnan zu den Kommunisten. Die wohlhabendsten Familien - Ausländer wie Chinesen gleichermaßen - verlassen die Stadt mit internationalen Dampfschiffen, die trotzig an den am Bund vor Anker liegenden japanischen Kriegsschiffen vorbeituckern.
Wir warten stundenlang in einer langen Schlange. Um fünf Uhr sind wir vielleicht drei Meter weit gekommen. Ohne auch nur das Mindeste erreicht zu haben, kehren wir nach Hause zurück. Ich bin todmüde; May sieht verzweifelt und erschöpft aus. Baba hat den Tag über Freunde besucht, bei denen er sich Geld für unsere Flucht ausleihen wollte, aber wer kann es sich in diesen plötzlich so unsicher gewordenenen Zeiten schon leisten, einem vom Unglück verfolgten Mann gegenüber Großzügigkeit zu zeigen? Das Schlägertrio findet unsere mageren Ergebnisse zwar nicht überraschend, aber froh ist es auch nicht darüber. Selbst diese Männer scheint das Chaos um uns herum zu entnerven.
In der Nacht wird das Haus von Explosionen in Chapei und Hongkew erschüttert. Die aus diesen Vierteln aufsteigenden Aschewolken vermischen sich mit dem Rauch der Säuglingsfeuer und dem der großen Scheiterhaufen, auf denen die Japaner ihre eigenen Toten verbrennen.
Am nächsten Morgen stehe ich ganz leise auf, um meine Schwester nicht zu wecken. Gestern hat sie mich klaglos begleitet. Aber als sie sich unbeobachtet glaubte, habe ich gesehen, wie sie sich ein paarmal die Schläfen rieb. Abends hat sie Aspirin geschluckt und sich prompt übergeben. Wahrscheinlich hat sie eine Gehirnerschütterung. Ich hoffe, es ist nur eine leichte, doch wie soll ich das wissen? Nach all den Geschehnissen der letzten achtundvierzig Stunden muss sie wenigstens ein bisschen schlafen, denn heute wird wieder kein leichter Tag für sie werden. Um zehn Uhr wird Tommy Hu beerdigt.
Ich gehe nach unten. Mama ist im Salon. Sie winkt mich zu sich. »Hier ist ein bisschen Geld.« Eine ungewöhnliche Härte liegt in ihrer Stimme. »Geh und hol uns ein paar Sesamkuchen und frittierte Teigstangen.« Seit dem Morgen, an dem sich unser Leben änderte, haben wir nicht mehr so viel zum Frühstück gegessen. »Wir
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