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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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die Leute hinter uns heran. »Der Nächste!«
    Ich bewege mich nicht von der Stelle.
    »Können wir denn auf ein anderes Schiff?«, frage ich.
    Er schlägt gegen das Gitter, das uns voneinander trennt. »Dumme Kuh!« Offenbar sind sich heute alle einig über mich. Dann umklammert er das Gitter und rüttelt daran. »Es gibt keine Fahrkarten mehr! Sie sind aus! Der Nächste! Der Nächste!«
    Er ist genauso frustriert und hysterisch wie Z. G.s Vermieterin. May streckt die Hand aus und legt ihre Finger auf seine. Eine Berührung zwischen den Geschlechtern - zwischen Fremden noch dazu! - gilt als verpönt. Der Mann am Schalter ist so verblüfft, dass ihm die Worte fehlen. Vielleicht empfindet er das schöne Mädchen, das sich plötzlich mit honigsüßer Stimme an ihn wendet, aber auch als beruhigend.
    »Ich weiß, dass Sie uns helfen können.« May neigt den Kopf, und ein kleines Lächeln verwandelt ihren verzweifelten Gesichtsausdruck in heitere Gelassenheit. Das wirkt sofort.
    »Zeigen Sie mir Ihre Billets«, sagt der Schalterbeamte. Er schaut sie konzentriert an und überprüft ein paar Fahrpläne. »Es tut mir leid, aber mit denen kommen Sie nicht aus Shanghai heraus«, sagt er schließlich, nimmt einen Block, füllt ein Formular aus und gibt es May zusammen mit den Fahrkarten zurück. »Wenn Sie es nach Hongkong schaffen, gehen Sie dort in unser Büro und geben das ab. Dann können Sie Ihre Karten gegen
Kojen nach San Francisco eintauschen.« Nach einer langen Pause wiederholt er: » Wenn Sie es nach Hongkong schaffen.«
    Wir bedanken uns bei ihm, auch wenn er uns überhaupt nicht geholfen hat. Wir wollen nicht nach San Francisco. Wir wollen Richtung Süden, um aus der Reichweite der Grünen Bande zu gelangen.
    Niedergeschlagen machen wir uns auf den Heimweg. Noch nie kamen mir der Verkehrslärm, der Gestank der Abgase und der penetrante Parfümgeruch so erdrückend vor. Noch nie sind mir die unstillbare Geldgier, die schamlos offene Kriminalität und der moralische Verfall so elend und sinnlos erschienen.
    Als wir zu Hause ankommen, sitzt Mama auf den Stufen vor dem Eingang, wo einst unsere Dienstboten stolz ihre Mahlzeiten einnahmen.
    »Waren sie wieder da?«, frage ich. Ich muss nicht erst klarstellen, wen ich meine. Die einzigen Menschen, vor denen wir wirklich Angst haben, sind die Schläger der Grünen Bande. Mama nickt. May und ich schlucken. Dann läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, als Mama sagt: »Euer Vater ist auch noch nicht zurück.«Wir setzen uns rechts und links neben unsere Mutter. Gemeinsam warten wir, suchen die Straße in beiden Richtungen ab, hoffen, Baba gleich um die Ecke biegen zu sehen. Aber er kommt nicht. Es wird dunkel, und damit verstärkt sich das Bombardement. Die Nacht glüht von den Bränden, die in Chapei wüten. Die Strahlen der Suchscheinwerfer ziehen über den Himmel. Was auch passiert, die Internationale Siedlung und die Französische Konzession bleiben als ausländische Territorien sicher.
    »Hat er gesagt, ob er nach der Beerdigung noch irgendwohin will?«, fragt May. Ihre Stimme klingt so dünn wie die eines kleinen Mädchens.
    Mama schüttelt den Kopf. »Vielleicht sucht er Arbeit. Vielleicht spielt er. Vielleicht ist er bei einer Frau.«
    Mir kommen noch andere Möglichkeiten in den Sinn, und als ich über Mamas Kopf hinweg zu May hinüberschaue, sehe ich,
dass es ihr ebenso geht. Hat er uns verlassen, sollen seine Frau und seine Töchter mit den Folgen seines Handelns allein fertig werden? Hat die Grüne Bande beschlossen, Baba schon vor Ablauf der Frist umzubringen, als Warnung an uns? Oder wurde er von einem Flugabwehrgeschütz oder von Granatsplittern getroffen?
    Gegen zwei Uhr morgens klopft sich Mama entschlossen auf die Schenkel. »Wir sollten etwas schlafen. Wenn euer Vater nicht nach Hause kommt …« Ihr versagt die Stimme. Sie holt tief Luft. »Wenn er nicht nach Hause kommt, gehen wir trotzdem nach meinem Plan vor. Die Familie eures Vaters wird uns aufnehmen. Wir gehören zu ihr.«
    »Aber wie wollen wir dorthin kommen? Wir können doch unsere Fahrkarten nicht umtauschen.«
    Mama scheint den Mut zu verlieren, doch dann kommt ihr rasch eine neue Idee. »Wir könnten nach Woosong. Das liegt nur ein paar Meilen von hier entfernt. Wenn es sein muss, könnte ich die Strecke laufen. Standard Oil hat dort einen Schiffsanleger. Mit euren Heiratsurkunden geben sie uns vielleicht einen Platz auf einer der Barkassen in eine andere Stadt. Von dort aus könnten

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