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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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wir in Richtung Süden weiter.«
    »Das wird kaum funktionieren«, sage ich. »Warum sollte die Ölgesellschaft uns helfen wollen?«
    Mama macht einen weiteren Vorschlag. »Wir könnten versuchen, ein Boot zu finden, das uns den Yangtze hinauffährt …«
    »Was ist mit den Affenmenschen?«, fragt May. »Der Fluss ist voll von denen. Sogar die lo fan verlassen das Landesinnere und kommen hierher.«
    »Wir könnten Richtung Norden nach Tientsin und versuchen, dort auf ein Schiff zu kommen«, meint Mama, hebt jedoch gleich die Hand, um meine Schwester und mich am Reden zu hindern. »Ich weiß. Die Affenmenschen sind längst dort. Wir könnten nach Osten, aber wie lange dauert es wohl, bis sie auch in diese Gebiete einmarschiert sind?« Sie überlegt. Es ist, als könnte ich
ihr durch den Schädel ins Gehirn sehen, während sie die Gefahren der unterschiedlichen Wege aus Shanghai heraus abwägt. Schließlich beugt sie sich vor und vertraut uns mit leiser, aber ruhiger Stimme an: »Lasst uns doch nach Südwesten zum Kaiserkanal gehen. Wenn wir erst einmal am Kanal sind, müssten wir eigentlich ein Boot finden können - einen Sampan, irgendetwas -, um dann weiter nach Hangchow zu fahren. Von dort aus können wir ein Fischerboot mieten, das uns nach Hongkong oder Kanton bringt.« Sie schaut zwischen May und mir hin und her. »Seid ihr einverstanden?«
    Mir schwirrt der Kopf. Ich habe keine Ahnung, was wir tun sollen.
    »Danke, Mama«, flüstert May. »Vielen Dank, dass du dich so gut um uns kümmerst.«
    Wir gehen ins Haus. Mondlicht strahlt durch die Fenster. Erst als wir uns Gute Nacht sagen, bricht Mamas Stimme, aber sie verschwindet gleich in ihrem Zimmer und schließt die Tür.
    May sieht mich im Dunkeln an. »Was sollen wir nur machen?«
    Ich finde, die Frage sollte besser lauten: Was wird aus uns werden? Aber ich stelle sie nicht. Als Mays jie jie muss ich meine Ängste verbergen.
    Am nächsten Morgen packen wir eilig ein, was uns nützlich erscheint: Hygieneartikel, drei Pfund Reis pro Person, einen Topf, Essgeschirr, Bettlaken, Kleider und Schuhe. In letzter Minute ruft mich Mama zu sich ins Zimmer. Aus einer Schublade ihrer Kommode holt sie Papiere heraus, darunter unser Handbuch und die Heiratsurkunden, und schlägt sie in Seide ein. Auf ihren Schminktisch hat sie unsere Fotoalben gelegt. Sie sind zu schwer zum Mitnehmen, deshalb will Mama wahrscheinlich ein paar Bilder zur Erinnerung einstecken. Sie zieht eines von dem schwarzen Papier ab. Dahinter kommt eine zusammengefaltete Banknote zum Vorschein. Sie wiederholt die Prozedur so oft, bis sie einen kleinen Stapel Geldscheine beisammenhat. Sie
steckt sich das Geld in die Tasche und bittet mich, die Kommode von der Wand wegzuschieben. An einem Nagel hängt ein kleines Täschchen, das sie nun an sich nimmt. »Das ist alles, was von meinem Brautpreis übrig ist«, klärt sie mich auf.
    »Wie hast du es denn geschafft, das Geld zu verstecken?«, frage ich aufgebracht. »Warum hast du nicht angeboten, die Grüne Bande damit zu bezahlen?«
    »Es hätte nicht gereicht.«
    »Aber es hätte vielleicht geholfen.«
    »Meine Mutter hat immer gesagt: ›Behalte stets etwas für dich selbst zurück‹«, erklärt Mama. »Ich wusste, ich würde vielleicht eines Tages Gebrauch davon machen müssen. Nun ist dieser Tag gekommen.«
    Sie verlässt den Raum. Ich bleibe noch, schaue mir die Fotos an: May als Baby, wir beide, für eine Feier gekleidet, das Hochzeitsfoto von Mama und Baba. Glückliche Erinnerungen, alberne Erinnerungen tanzen vor mir, bis mir alles vor den Augen verschwimmt und ich die Tränen wegblinzle. Ich nehme ein paar von den Fotos, stecke sie mir in die Tasche und gehe nach unten. Mama und May warten an der Eingangstreppe auf mich.
    »Besorge uns doch bitte einen Schubkarren, Pearl«, trägt mir Mama auf. Weil sie meine Mutter ist und ich keine andere Wahl habe, gehorche ich ihr - einer Frau mit gebundenen Füßen, die bisher nie etwas planen musste, abgesehen von ihrer Mah-Jongg-Strategie.
    Ich warte an der Ecke und halte Ausschau nach einem Schubkarren, der robust und groß wirkt und dessen Fahrer kräftig aussieht. Schubkarrenfahrer stehen unter Rikschafahrern und nur ein wenig über den Fäkaliensammlern. Sie werden der Klasse der Kulis zugerechnet - so arm, dass sie für ein bisschen Geld oder ein paar Schüsseln Reis alles tun. Nach mehreren Versuchen finde ich einen Fahrer. Seine Bauchdecke scheint am Rückgrat zu kleben, so dünn ist er. Er ist willens,

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