Toechter Aus Shanghai
dass sie lügt. Ein Bauernmädchen kann sich keine Damenbinden leisten, wie man sie im Westen trägt. Sie würde grobes Graspapier verwenden wie jede andere arme Frau auch.
Wie kommt es nur, dass wir in solchen Augenblicken unwillkürlich hinschauen? Ich weiß es nicht, aber ich blicke schon wieder hinüber - zum Teil weil ich besorgt um May und mich bin, zum Teil aus Neugier. Der Pirat nimmt die Binde und schlitzt sie mit dem Messer auf. Er bringt gerade einmal fünfzehn Hongkong-Dollar zum Vorschein.
Erbost über seine armselige Beute wirft der Pirat die Binde ins Meer. Er schaut von einer Frau zur nächsten und kommt schließlich zu dem Schluss, dass wir nicht der Mühe wert sind, dann gibt er zwei seiner Männer Zeichen, den Laderaum zu durchsuchen. Wenige Minuten später kehren sie zurück, stoßen Drohungen aus, springen wieder in ihr Boot und tuckern davon. Alle drängen zurück in den stinkenden Laderaum, um nachzusehen, was die Piraten mitgenommen haben. Ich bleibe an Deck. Schon bald, schneller als ich gedacht hätte, dringen bestürzte Schreie herauf.
Ein Mann klettert rasch die Leiter empor, macht drei große Schritte über das Deck und springt über Bord. Weder der Fischer noch ich können etwas tun. Der Mann treibt noch etwa eine Minute auf den Wellen, dann geht er unter.
Seit ich im Krankenhaus aufgewacht bin, will ich jeden Tag sterben, aber als ich diesen Mann in den Wellen verschwinden sehe, spüre ich, wie etwas in mir aufsteigt. Ein Drache gibt nicht auf. Ein Drache leistet dem Schicksal Widerstand. Es ist kein wildes, lautes Aufbegehren, sondern eher ein Gefühl, als würde jemand ein glimmendes Stück Kohle anpusten und feststellen, dass es schwach glüht. Ich muss mich an mein Leben klammern - so zerstört und sinnlos es auch sein mag. Ich höre Mamas Stimme mit einem ihrer Lieblingssprichwörter: »Es gibt kein Unglück
außer dem Tod; ärmer als ein Bettler kann man nicht sein.« Ich will - ich muss - etwas Besseres, Mutigeres tun, als zu sterben.
Ich gehe zur Luke und steige die Leiter hinunter. Der Fischer verschließt die Klappe. In der Dunkelheit suche ich May. Ich setze mich neben sie. Wortlos zeigt sie mir Mamas Mitgiftbeutel, dann schaut sie nach oben. Ich folge ihrem Blick. Der letzte Rest von unserem Geld steckt noch sicher in dem Spalt.
Ein paar Tage nachdem wir in Hongkong gelandet sind, lesen wir, dass mittlerweile alle Gebiete um Shanghai angegriffen wurden. Die Berichte sind niederschmetternd. Chapei wurde bombardiert und niedergebrannt. Hongkew, wo wir gewohnt haben, ist es nicht viel besser ergangen. Die Französische Konzession und die Internationale Siedlung sind - als ausländische Hoheitsgebiete - immer noch sicher. Mehr und mehr Flüchtlinge ziehen in diese Stadt, in der nicht einmal mehr Platz für eine weitere Ratte ist. Laut Zeitungsberichten bringen die dreieinhalb Millionen Flüchtlinge das Leben der Viertelmillion Einwohner völlig durcheinander. Die Flüchtlinge leben auf der Straße, in umfunktionierten Kinos, Ballsälen und auf Rennbahnen. Diese Gebiete - auf allen Seiten von den Zwergbanditen umgeben - bezeichnet man jetzt als »Einsame Insel«. Der Terror ist nicht auf Shanghai beschränkt. Jeden Tag hört man aufs Neue von Frauen in ganz China, die verschleppt, vergewaltigt oder getötet wurden. Kanton, das nicht weit von Hongkong entfernt liegt, leidet unter heftigen Luftangriffen. Mama wollte, dass wir in Babas Heimatdorf gehen, aber was werden wir dort vorfinden? Wird es niedergebrannt sein? Wird noch jemand am Leben sein? Wird der Name unseres Vaters in Yin Bo noch etwas bedeuten?
Wir wohnen in einem Hotel im Hafenviertel von Hongkong. Es ist schmutzig, staubig und verlaust. Das Moskitonetz ist verrußt und zerrissen. Was wir in Shanghai ignoriert haben, begegnet uns hier umso deutlicher: Familien, die an Straßenecken kauern, ihre ganze Habe vor sich auf einer Decke ausgebreitet in der
Hoffnung, dass jemand stehen bleibt und etwas davon kauft. Die Briten jedoch benehmen sich, als würde das Affenvolk niemals in die Kolonie eindringen. »Mit diesem Krieg haben wir nichts zu tun«, sagen sie mit ihrem spröden Akzent. »Die Japsen wagen es nicht, uns anzugreifen.« Da wir so wenig Geld haben, müssen wir uns von gekochter Reiskleie ernähren, die sonst an Schweine verfüttert wird. Die Kleie kratzt beim Schlucken im Hals und richtet weiteren Schaden auf dem Weg hinaus an. Wir haben keine besonderen Fähigkeiten, und niemand hat Verwendung für
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