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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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dämpfen. Ich schaue mich um, aber die anderen Frauen beachten uns gar nicht oder tun wenigstens so. Typisch chinesisch.
    Ich kletterte zu May aufs Stockbett.
    »Ich dachte, du hättest mit Vernon gar nicht getan, was Eheleute tun«, flüstere ich.
    »Hab ich auch nicht«, stößt sie hervor. »Ich konnte nicht.« Ein Wachmann kommt herein und verkündet, dass Essenszeit ist. Die Frauen hasten zur Tür hinaus. So schlecht das Essen auch sein mag, eine Mahlzeit ist wichtiger als ein Streit zwischen zwei Schwestern. Falls heute irgendetwas Essbares dabei sein sollte, möchte jede die Erste sein. Nach wenigen Minuten sind wir allein und müssen nicht mehr flüstern.
    »War es der Junge, den du auf dem Schiff kennengelernt hast?« Ich weiß nicht einmal mehr seinen Namen.
    »Es war schon davor.«
    Davor? Davor waren wir im Krankenhaus in Hangchow und dann im Hotel in Hongkong. Ich kann mir nicht vorstellen, wann in dieser Zeit etwas passiert sein sollte, es sei denn während meiner Krankheit oder davor, während ich bewusstlos war. War es einer der Ärzte, die sich um mich gekümmert haben? Wurde sie auf dem Weg zum Kaiserkanal vergewaltigt? Ich habe mich zu sehr geschämt, um über das zu sprechen, was mir zugestoßen ist. Hat May während der ganzen Zeit ein ähnliches Geheimnis bewahrt? Ich weiche dem Thema aus und stelle ihr lieber eine ganz praktische Frage.

    »Wie weit bist du?«
    Sie setzt sich auf, reibt sich mit beiden Händen die Augen und sieht mich gleichzeitig sorgenvoll, beschämt und flehend an. Sie schlägt die Beine unter, sodass sich unsere Knie berühren, dann knöpft sie langsam die Knebelverschlüsse ihrer Bauernjacke auf und streicht sich das Hemd glatt, damit ich ihren Bauch sehe. Die Schwangerschaft ist schon ziemlich weit fortgeschritten, was wiederum erklärt, weshalb sich May schon so kurz nach unserer Ankunft auf Angel Island unter weiten Kleidern versteckt hat.
    »War es Tommy?«, frage ich hoffnungsvoll.
    Mama wollte immer, dass May und Tommy heiraten. Jetzt, da Tommy und Mama tot sind, wäre das doch eine wunderbare Fügung. Aber May sagt: »Er war nur ein Freund«, und ich weiß nicht, was ich denken soll. Meine Schwester ist in Shanghai mit vielen verschiedenen Männern ausgegangen, besonders in den letzten Tagen, als wir so verzweifelt vergessen wollten, in welche Lage wir geraten waren. Aber deren Namen kenne ich nicht, und ich möchte May auch keine Verhörfragen stellen wie: »War es dieser junge Mann damals im Venus Club?« oder »War es der Amerikaner, den Betsy manchmal mitgebracht hat?« Das wäre ebenso lächerlich und albern wie das, was ich heute durchgemacht habe. Aber ich kann meine Zunge nicht im Zaum halten.
    »War es der Student, der den Wintergarten im ersten Stock bezogen hat?« Ich kann mich kaum an ihn erinnern, nur dass er dünn war, Grau trug und sehr zurückhaltend war. Was hat er eigentlich studiert? Keine Ahnung, aber ich habe nicht vergessen, wie er sich an dem Tag, als die Bomben fielen, über Mamas Sessel beugte. Tat er das, weil er in May verliebt war, wie so viele andere junge Männer auch?
    »Da war ich schon schwanger«, gesteht May.
    Mir kommt ein scheußlicher Gedanke. »Bitte sag mir, dass es nicht Hauptmann Yamasaki war.« Wenn May ein Kind bekommt, das zur Hälfte japanisch ist, weiß ich nicht, was ich tun werde.
    Zu meiner Erleichterung schüttelt sie den Kopf.

    »Du hast ihn nie kennengelernt.« Mays Stimme bebt. »Ich habe ihn doch selbst kaum gekannt. Ich hab es einfach gemacht. Ich hätte ja nie gedacht, dass das passieren würde. Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, wäre ich zu einem Kräuterheiler gegangen und hätte mir etwas geholt, damit das Baby abgeht. Aber ich habe es nicht getan. Ach, Pearl, alles ist meine Schuld.« Sie nimmt meine Hände und fängt wieder zu weinen an.
    »Mach dir keine Sorgen. Wir werden das schon schaffen.« Ich will ihr Trost spenden, weiß aber selbst, dass es nur leere Worte sind.
    »Wie sollen wir das bitte schaffen? Hast du mal darüber nachgedacht, was das für uns bedeutet?«
    Um die Wahrheit zu sagen, nein. Ich hatte schließlich nicht monatelang Zeit, um Mays Zustand gedanklich zu verarbeiten. Ich hatte kaum einmal zwei Minuten.
    »Wir können nicht sofort nach Los Angeles.« May hält inne und schaut mich prüfend an. »Dir ist doch klar, dass wir dort hinmüssen, oder?«
    »Ich weiß nicht, was wir sonst für eine Möglichkeit hätten. Aber einmal ganz abgesehen davon« - ich deute auf ihren Bauch -,

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