Toechter Aus Shanghai
Frühaufsteher. Ich unterhalte mich mit den Stammkunden - Lastwagenfahrer und Postangestellte -, nehme die Bestellungen entgegen und rufe sie den Köchen zu.
Um neun Uhr kommen zwei Polizisten herein und setzen sich an den Tresen. Ich streiche mir die Schürze glatt und heiße sie mit breitem Lächeln willkommen, bei dem man sogar meine Zähne sieht. Wenn sie sich bei uns nicht umsonst die Bäuche vollschlagen können, folgen sie unseren Gästen zu ihren Autos und stellen ihnen Strafzettel aus. Die letzten zwei Wochen waren besonders schlimm, denn die Polizisten sind von einem Laden zum nächsten gegangen und haben »Weihnachtsgeschenke« eingesammelt, bis sie nichts mehr tragen konnten. Eine Woche später waren sie dann der Meinung, doch nicht genügend Geschenke bekommen zu haben, sperrten den Parkplatz und hinderten die Gäste und Kunden daran, überhaupt herzukommen. Jetzt sind alle eingeschüchtert und geben den Polizisten bereitwillig alles, was sie verlangen, solange nur der Laden geöffnet bleibt.
Als die Polizisten gehen, ruft ein Lastwagenfahrer Sam zu: »Hey, Junge, pack mir noch’n Stück von dem Blaubeerkuchen zum Mitnehmen ein, ja?«
Vielleicht ist Sam wegen des Polizeibesuchs noch nervös, denn er ignoriert die Bestellung und spült weiter seine Gläser. Mittlerweile scheint es eine Ewigkeit her zu sein, seit ich im Handbuch gelesen habe, dass Sam Geschäftsführer des Cafés werden soll; momentan ist er irgendetwas zwischen Gläserspüler und Tellerwäscher. Ich beobachte ihn, während ich Eier, Kartoffeln, Toast und Kaffee für fünfunddreißig Cent oder ein Marmeladenbrötchen
und Kaffee für ein Fünf-Cent-Stück serviere. Jemand bittet Sam, ihm Kaffee nachzuschenken, doch er geht erst mit der Kanne zum Gast, als der ungeduldig auf die Tasse klopft. Eine halbe Stunde später bittet der Mann um die Rechnung, und Sam zeigt auf mich. Er sagt nicht ein einziges Wort zu einem unserer Gäste.
Die Frühstückswelle ebbt ab. Sam räumt schmutziges Geschirr und Besteck zusammen, und ich folge ihm mit einem feuchten Tuch, um die Tische und den Tresen abzuwischen.
»Sam«, sage ich auf Englisch, »warum sprichst du nicht mit unseren Gästen?« Obwohl er nicht antwortet, fahre ich auf Englisch fort. »In Shanghai haben die lo fan immer gesagt, chinesische Kellner wären mürrisch und hätten schlechte Manieren. Das sollen unsere Gäste doch nicht von dir denken, oder?«
Langsam wirkt er nervös und kaut auf der Unterlippe.
Ich wechsle zu Sze Yup. »Du kannst kein Englisch, oder?«
»Ein bisschen«, sagt er. Dann verbessert er sich und lächelt verlegen. »Ganz wenig. Sehr wenig.«
»Wie kann das sein?«
»Ich bin in China geboren. Woher soll ich es können?«
»Weil du hier gelebt hast, bis du sieben warst.«
»Das ist lange her. Ich kann mich nicht an die Wörter von damals erinnern.«
»Aber hast du es nicht in China gelernt?«, frage ich. Jeder, den ich in Shanghai kannte, hat Englisch gelernt. Sogar May, die eine sehr schlechte Schülerin war, beherrscht diese Sprache.
Sam antwortet nicht direkt. »Wenn ich versuche, Englisch zu sprechen, wollen die Gäste mich nicht verstehen. Und wenn sie mit mir reden, verstehe ich sie auch nicht.« Er nickt zur Uhr an der Wand hin. »Du gehst jetzt besser.«
Damit schiebt er mich hinaus. Ich weiß, dass er jeden Vormittag und späten Nachmittag irgendwohin geht, so wie ich auch. Als fu yen steht es mir nicht zu, ihn zu fragen, was er macht. Wenn Sam spielt oder jemanden dafür bezahlt, mit ihm zu tun, was Eheleute
tun, was kann ich da schon ausrichten? Wenn er ein Schürzenjäger ist, was kann ich dagegen tun? Wenn er dem Glücksspiel verfallen ist wie mein Vater, was soll ich da schon machen? Von meiner Mutter und durch die Beobachtung von Yen-yen habe ich gelernt, wie sich eine Ehefrau verhält. Man kann nichts daran ändern, wenn einen der Ehemann allein lässt. Man hat kein Recht zu erfahren, wohin er geht. Er kommt zurück, wenn er zurückkommt, Schluss, aus.
Ich wasche mir die Hände und ziehe meine Schürze aus. Auf dem Weg zum Golden Lantern denke ich darüber nach, was Sam gesagt hat. Wie kommt es nur, dass er kein Englisch kann? Mein Englisch ist perfekt - und ich habe gelernt, dass es höflich ist, »Amerikaner« zu sagen statt lo fan oder fan gwaytze und »Asiate« statt »Chinamann« oder »Schlitzauge« -, aber mir ist klar, dass man mit fließendem Englisch kein Trinkgeld bekommt und nichts verkauft. Die Leute kommen nach China City, um
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