Toechter Aus Shanghai
sagt mir nie, was er bekommt. Er neigt nur den Kopf, wischt den Tisch ab, hebt Joy vom Boden auf oder geht ins Bad und schließt die Tür.
Im Nachhinein begreife ich, wieso bei Mama, Baba, May und mir der Eindruck entstehen konnten, der Alte Herr Louie sei wohlhabend. In Shanghai war unsere Familie vermögend. Baba hatte einen eigenen Betrieb. Wir hatten ein Haus und Dienstboten. Wir dachten, der Alte Herr müsse deutlich reicher sein als wir. Jetzt sehe ich das anders. Mit einem amerikanischen Dollar konnte man in Shanghai sehr viel anfangen, denn dort war alles billig, vom Wohnen über Kleidung bis zu Ehefrauen wie uns. In
Shanghai haben wir in dem Alten Herrn Louie das gesehen, was wir sehen wollten: einen Mann, der sich mit seinem Geld brüstet. Durch die Geringschätzigkeit, mit der er Baba bei den Besuchen behandelte, vermittelte er uns das Gefühl, unbedeutend zu sein. Doch das war alles Lüge. Hier, im Land der Blütenflagge, ist der Alte Herr Louie besser gestellt als die meisten anderen in China City, dennoch ist er arm. Er hat zwar fünf Geschäfte, aber sie sind klein - geradezu winzig mit fünf Quadratmetern hier und zehn Quadratmetern dort -, selbst zusammengerechnet ist das nicht viel. Und der Wert seines Warenbestands, fünfzigtausend Dollar, ist gleich null, wenn niemand etwas kauft. Wäre jedoch meine Familie hierhergekommen, dann wären wir ganz unten gewesen, auf einer Stufe mit den Wäschern, Gläserspülern und Gemüsehändlern.
Mit diesen traurigen Gedanken steige ich die Treppe zur Wohnung hinauf, ziehe mir die muffigen Kleider aus und lasse sie als Haufen in der Ecke liegen. Ich lege mich ins Bett und versuche noch ein paar Minuten wach zu bleiben und die Ruhe und Stille zu genießen, während meine Kleine in ihrer Schublade schläft.
Am Weihnachtstag ziehen wir uns an und gesellen uns zu den anderen ins große Zimmer. Yen-yen und der Alte Herr Louie reparieren kaputte Vasen, die aus einem bankrott gegangenen Souvenirgeschäft in San Francisco stammen. May rührt einen Topf jook auf der Wärmeplatte in der Küche. Vern sitzt bei seinen Eltern und schaut sich um. Er wirkt hoffnungsvoll, aber irgendwie elend. Er ist hier aufgewachsen und besucht eine amerikanische Schule, deshalb kennt er Weihnachten. In den letzten zwei Wochen hat er ein bisschen Weihnachtsschmuck, den er im Kunstunterricht gebastelt hat, mit nach Hause gebracht, doch abgesehen davon deutet gar nichts darauf hin, dass Weihnachten ist: keine Strümpfe, kein Baum, keine Geschenke. Vern sieht aus, als würde er gerne ein bisschen feiern, aber was hat er schon für Möglichkeiten? Er lebt als Sohn bei seinen Eltern und muss sich
nach ihren Regeln richten. May und ich werfen uns einen kurzen Blick zu, schauen zu Vern hinüber und sehen uns wieder an. Wir verstehen, was in ihm vorgeht. In Shanghai haben May und ich in der Missionsschule die Geburt des Jesuskindes gefeiert, während Mama und Baba diesen Feiertag überhaupt nicht zur Kenntnis nahmen. Jetzt sind wir hier und möchten feiern wie die lo fan.
»Was machen wir heute?«, fragt May optimistisch. »Sollen wir zur Kirche an der Plaza und in die Olvera Street gehen? Dort wird bestimmt gefeiert.«
»Mit diesen Leuten geben wir uns nicht ab«, sagt der Alte Herr Louie.
»Ich hab doch gar nicht gesagt, dass wir etwas mit ihnen machen sollen«, antwortet May. »Aber es wäre doch bestimmt interessant zu sehen, wie sie feiern.«
May und ich haben mittlerweile gelernt, dass es keinen Sinn hat, sich mit unseren Schwiegereltern zu streiten. Wir sollten uns einfach freuen, einen freien Tag zu haben.
»Ich möchte an den Strand«, erklärt Vern plötzlich. Da er nur selten etwas sagt, wissen wir, dass es ihm ernst ist. »Mit der Stra ßenbahn.«
»Das ist zu weit«, widerspricht der Alte Herr.
»Ich für meinen Teil muss dieses Meer nicht sehen«, spottet Yen-yen. »Hier habe ich alles, was ich brauche.«
»Ihr bleibt zu Hause«, sagt Vern und überrascht uns damit alle.
May hebt die Augenbrauen. Ich sehe ihr an, dass sie gerne losziehen würde, aber ich habe nicht vor, für so etwas Albernes an unser Hochzeitsgeld zu gehen, und Sam habe ich, abgesehen vom Restaurant, noch nie mit Geld in der Hand gesehen.
»Wir können es uns hier schön machen«, sage ich. »Wir können über den lo-fan -Abschnitt des Broadway laufen und uns die Schaufenster anschauen. Alles ist für Weihnachten geschmückt. Das wird dir gefallen, Vern.«
»Ich will an den Strand«, beharrt er. »Ich
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