Toechter Aus Shanghai
alles Mögliche zu zeigen, nur bist du manchmal so stur wie Mama. Du willst es nicht wissen. Du willst es nicht hören.«
Mays Worte verblüffen und kränken mich, aber sie ist noch nicht fertig.
»Du weißt ja, dass die Leute, die in der Olvera Street arbeiten, mexikanische Kostüme anziehen müssen, oder? Weil Mrs. Sterling darauf besteht. Das ist in ihren Mietverträgen so vereinbart, genau wie in unseren Verträgen für China City. Wir müssen unsere cheongsams tragen, wenn wir hier arbeiten. Mrs. Sterling und ihre lo-fan- Partner wollen, dass wir aussehen, als hätten wir China nie verlassen. Der Alte Herr Louie muss das gewusst haben, als er in Shanghai unsere Kleider eingepackt hat. Denk doch mal nach, Pearl. Wir dachten, er hätte keinen Geschmack, kein Urteilsvermögen, aber er wusste ganz genau, wonach er suchte, und er hat nur mitgenommen, was er für nützlich hielt. Alles andere hat er zurückgelassen.«
»Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?« »Wie denn? Du bist ja gar nicht richtig hier. Ich habe versucht, dich an andere Orte mitzunehmen, doch meistens willst du die Wohnung nicht verlassen. Ich musste dich nach draußen schleifen, nur um einmal mit dir auf der Plaza zu sitzen. Du sprichst nicht darüber, aber ich weiß, du gibst mir und Sam und Vern und uns allen die Schuld daran, dass du nicht rauskommst. Dabei sperrt dich kein Mensch ein. Du selbst willst nirgendwohin. Bis heute konnte ich dich nicht ein einziges Mal dazu bringen, über die Straße nach China City zu gehen!«
»Das interessiert mich alles nicht. Wir sind doch nicht für immer hier.«
»Wie sollen wir denn von hier weg, wenn wir nicht wissen, was dort draußen ist?«
Weil es einfacher ist, nichts zu tun, weil ich Angst habe , denke ich, sage es jedoch nicht.
»Du bist wie ein Vogel, der aus seinem Käfig befreit wurde«, sagt May, »aber vergessen hat, wie man fliegt. Du bist meine Schwester, nur weiß ich nicht, wohin du innerlich gegangen bist. Du bist so weit weg von mir.«
Wir steigen die Treppe zur Wohnung hoch. An der Tür hält sie mich noch einmal zurück. »Warum kannst du nicht die Schwester sein, die ich in Shanghai hatte? Du warst lustig. Du hattest vor nichts Angst. Jetzt benimmst du dich wie eine fu yen .« Sie macht eine Pause. »Es tut mir leid. Das war gemein von mir. Du hast natürlich viel durchgemacht, und mir ist klar, dass du deine ganze Aufmerksamkeit und Sorge dem Kind widmen musst. Aber du fehlst mir, Pearl. Mir fehlt meine Schwester.«
Drinnen ruft Yen-yen ihren Sohn. »Kind-Mann, es ist Zeit ins Bett zu gehen. Hol deine Frau und geh schlafen.«
»Mir fehlen Mama und Baba. Mir fehlt unser Zuhause. Und das« - sie deutet auf den dunklen Korridor - »ist alles so schwer. Ich schaffe das nicht ohne dich.« Tränen laufen ihr über die Wange. Sie wischt sie unwirsch weg, holt Luft und betritt die Wohnung, um mit ihrem Kind-Mann in ihr Zimmer zu gehen.
Ein paar Minuten später lege ich Joy in ihre Schublade und gehe selbst ins Bett. Sam dreht sich wie gewöhnlich zur anderen Seite, und ich rutsche möglichst weit weg von ihm und möglichst nahe zu Joy an den Rand. Meine Gefühle, meine Gedanken, alles ist ein einziges Durcheinander. Die Sache mit den Kleidern ist eine weitere Ernüchterung, doch was ist mit den anderen Dingen, die May gesagt hat? Mir war nicht klar, dass auch sie leidet. Und sie hat recht, was mich angeht. Ich habe Angst: Angst, die Wohnung zu verlassen, bis ans Ende der Sanchez Alley zu gehen, die Plaza zu betreten, die Olvera Street entlangzuschlendern oder über die Straße nach China City zu gehen. In den vergangenen Wochen hat May mir oft angeboten: »Ich nehme dich mit nach China City, wann immer du willst.« Aber ich wollte nicht.
Ich berühre den kleinen Beutel, den Mama mir geschenkt hat und den ich unter dem Hemd trage. Was ist mit mir passiert? Wie konnte ich zu so einer ängstlichen fu yen werden?
Keine drei Wochen später, am 25. Juni, findet nur ein paar Stra ßen weiter die große Eröffnung von New Chinatown statt. Prächtige,
traditionell geschnitzte chinesische Tore leuchten am Ende des Blocks. Anna May Wong, die glamouröse Filmschauspielerin, führt den Festumzug an. Eine chinesische Mädchentrommelgruppe gibt eine begeisternde Vorführung. Neonlampen beleuchten bunt bemalte Gebäude, deren Traufen und Balkone mit allem möglichen chinesischen Schnickschnack geschmückt sind. In New Chinatown wirkt alles größer und besser. Es gibt mehr
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