Toechter Aus Shanghai
will ans Meer.« Als niemand reagiert, schiebt er seinen Stuhl zurück, trottet in sein
Zimmer und schlägt die Tür zu. Wenig später kommt er zurück. Er hat ein paar zerknüllte Dollarscheine in der Faust. »Ich bezahle das«, sagt er schüchtern.
Yen-yen versucht ihm das Geld wegzunehmen. Zu uns sagt sie: »Ein Schwein trennt sich leicht von seinem Geld, aber man sollte es nicht ausnutzen.«
Vern entzieht sich ihr und streckt die Arme in die Luft, damit seine Mutter nicht an das Geld herankommt. »Das ist ein Weihnachtsgeschenk für meinen Bruder, May, Pearl und das Baby. Mama und Baba, ihr bleibt zu Hause.«
Nicht nur ich, wir alle haben ihn noch nie so viel sagen hören. Daher tun wir ihm den Gefallen. Wir fahren zu fünft an den Strand, gehen auf dem Pier spazieren und tauchen die Zehen in den eiskalten Pazifik. Wir achten darauf, dass Joy in der ungewöhnlich kräftigen Wintersonne keinen Sonnenbrand bekommt. Das Wasser schimmert unter dem Himmel. In der Ferne fallen grüne Hügel ins Meer ab. Wir lassen unsere Sorgen vom Wind und dem Rauschen der Wellen davontragen. Als wir zu Vern und Sam zurückgehen, die mit der Kleinen unter einem Schirm sitzen, sagt May: »Es ist nett von Vern, dass er das für uns macht.« Zum ersten Mal hat sie etwas Freundliches über ihn gesagt.
Zwei Wochen später wird Yen-yen von einer Gruppe Frauen vom United China Relief eingeladen, mit nach Wilmington zu fahren. Dort wollen sie vor den Werften demonstrieren, die Schrott an Japan geliefert haben. Als Yen-yen den Alten Herrn Louie um Erlaubnis fragt, bin ich mir sicher, dass er Nein sagt, aber er überrascht uns alle. »Du kannst hin, wenn du Pearl und May mitnimmst.«
»Dann hast du aber zu wenige Helfer«, sagt Yen-yen. Ihre Stimme verrät die Hoffnung, dass es klappt, ebenso wie die Angst, er könnte seine Meinung ändert.
»Egal. Egal«, sagt er. »Ich lasse die Onkel länger arbeiten.«
Yen-yen würde niemals durch ein strahlendes Lächeln oder
Ähnliches verraten, wie glücklich sie ist, doch wir hören es ihrer Stimme an, als sie May und mich fragt: »Kommt ihr mit?«
»Auf jeden Fall«, sage ich. Ich werde alles tun, um Geld für den Kampf gegen die Japaner aufzubringen, die systematisch ihre brutale »Three alls«-Politik - tötet alles, verbrennt alles, zerstört alles - durchziehen, eine Strategie der verbrannten Erde. Es ist meine Pflicht, Frauen zu helfen, die vergewaltigt und getötet werden. Ich schaue May an. Sie will sicherlich auch mit, und wenn nur aus dem Grund, dass sie einen Tag aus China City herauskommt, aber sie zuckt nur mit den Schultern.
»Was können wir schon ausrichten? Wir sind doch bloß Frauen«, sagt sie.
Gerade weil ich eine Frau bin, wage ich mich dorthin. Yen-yen und ich gehen zu Fuß zu dem Treffpunkt und steigen in einen Bus, der uns zu den Werften bringt. Die Organisatoren reichen uns bedruckte Zettel. Wir demonstrieren, rufen unsere Parolen, und ich erlebe ein Gefühl der Freiheit, das ich ganz allein meiner Schwiegermutter verdanke.
»China ist meine Heimat«, sagt sie im Bus auf der Rückfahrt nach Chinatown. »Es wird immer meine Heimat bleiben. Wenn China leidet, leide ich auch.«
Seit diesem Tag habe ich im Café eine Tasse für Münzen auf dem Tresen stehen. Ich trage einen United-China-Relief-Anstecker am Kleid. Ich demonstriere gegen die Schrottlieferungen und beteilige mich an Kundgebungen gegen den Verkauf von Flugbenzin für die Flugzeuge der Affenmenschen. Ich tue das alles, weil Shanghai und China meinem Herzen nie fern sind.
BITTERNIS SCHLUCKEN, UM GOLD ZU ERNTEN
Das chinesische Neujahr steht bevor. Wir werden es ganz traditionell begehen. Der Alte Herr Louie gibt uns Geld für neue Kleider. Ich statte Joy mit Sachen aus, die auf ihr Tierkreiszeichen, den Tiger, anspielen: kleine Schuhe, die aussehen wie Tigerbabys, und eine orange-goldene Babymütze mit kleinen Ohren und einem Schwanz aus verzwirntem Stickgarn. May und ich suchen uns amerikanische Baumwollkleider mit Blumenmuster aus. Dann lassen wir uns die Haare waschen und legen. Zu Hause nehmen wir das Bild des Küchengottes ab und verbrennen es draußen auf der Straße, damit er ins Jenseits reist und dort berichtet, was wir im vergangenen Jahr geleistet haben. Wir räumen Messer und Scheren weg, damit unser Glück nicht abgeschnitten wird. Yen-yen bringt den Ahnen der Louies Opfer. Sie hat ganz schlichte Wünsche und Gebete. »Bringt dem Kind-Mann einen Sohn. Macht seine Frau schwanger. Schenkt mir
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