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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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einen Enkelsohn.«
    In China City hängen wir rote Stofflaternen und Spruchbänder aus rotem und goldenem Papier auf. Tänzer, Sänger und Akrobaten treten auf, sollen die Kinder und ihre Eltern unterhalten. Im Café wählen wir besondere Zutaten für Feiertagsgerichte, die als chinesisch empfunden werden, dem amerikanischen Gaumen aber trotzdem schmecken. Wir rechnen mit großem Andrang, deshalb stellt der Alte Herr Louie zusätzliche Hilfen für seine Betriebe ein. Noch mehr Leute aber braucht er für das, was seiner Meinung nach am Neujahrstag am besten laufen wird: die Fahrten mit den Rikschas.
    »Wir müssen besser sein als die Leute in New Chinatown«,
sagt er am Tag vor Neujahr zu Sam. »Wie soll das gehen, wenn ich am chinesischsten Tag des Jahres die Rikschas von mexikanischen Jungen ziehen lasse? Vern ist nicht kräftig genug, du schon.«
    »Ich habe zu viel im Café zu tun«, erwidert Sam.
    Mein Schwiegervater hat Sam schon öfter gebeten, Rikschas zu ziehen, aber Sam fällt immer irgendeine Ausrede ein. Ich habe keine Ahnung, wie es am Neujahrstag sein wird, doch ich weiß, wie viel bisher an anderen Feiertagen los war. So schlimm, dass ich nicht wie üblich im Café, im Blumenladen, dem Souvenirgeschäft oder dem Antiquitätenladen hätte arbeiten können, war es nie. Also lügt Sam, und das weiß auch der Alte Herr Louie. Normalerweise wäre mein Schwiegervater zornig, aber wir haben Neujahr, und da sollten keine unfreundlichen Worte fallen.
    Am Neujahrsmorgen ziehen wir unsere neuen Kleider an und verletzen so der chinesischen Tradition zuliebe Mrs. Sterlings Vorschrift, kostümiert zur Arbeit zu erscheinen. Unsere Sachen sind von der Stange, doch es ist ein wunderbares Gefühl, wieder etwas Neues auf der Haut zu tragen und noch dazu im westlichen Stil. Joy ist jetzt elf Monate alt. Mit ihrer Tigermütze und den Schühchen sieht sie entzückend aus. Ich bin ihre Mutter, deshalb finde ich sie natürlich schön. Ihr Gesicht ist rund wie der Mond. Ihre schwarzen Pupillen werden von einem Weiß umrahmt, das so rein ist wie frisch gefallener Schnee. Ihr Haar ist flaumig und weich. Die Haut ist blass und durchscheinend wie Reismilch.
    Früher glaubte ich nicht an die chinesischen Tierkreiszeichen, von denen Mama dauernd sprach, aber je mehr Zeit seit ihrem Tod vergangen ist, desto klarer wird mir, dass es gestimmt haben könnte, was sie über May und mich sagte. Wenn Yen-yen jetzt die Eigenschaften eines Tigers beschreibt, sehe ich ganz deutlich meine Tochter vor mir. Joy kann launisch und sprunghaft wie ein Tiger sein. Im einen Moment ist sie ganz furchtbar albern, im nächsten vielleicht in Tränen aufgelöst. Gleich darauf versucht sie womöglich, ihrem Großvater an den Beinen hochzuklettern, weil
sie seine Aufmerksamkeit will und auch bekommt. In seinen Augen mag sie ein wertloses Mädchen sein - sie ist und bleibt Pan-di, Hoffe-auf-einen-Bruder -, aber der Tiger ist mit einem Satz in seinem Herzen gelandet. Joys Persönlichkeit ist stärker als seine, und ich glaube, das respektiert er.
    Ich merke genau, ab welchem Moment der Neujahrstag in die falsche Richtung läuft. Während May und ich uns im gro ßen Zimmer die Haare machen, kitzelt Yen-yen Joy, die auf dem Boden liegt, am Bauch. Sie neckt Joy, krabbelt mit den Fingern auf die Kleine zu und zieht sie wieder weg, hebt und senkt die Stimme, nur passt das, was sie sagt, nicht zu ihrem lustigen Spiel.
    » Fu yen oder yen fu ?«, fragt Yen-yen, während Joy erwartungsvoll kreischt. »Willst du lieber eine Ehefrau oder eine Dienerin sein? Alle Frauen möchten lieber eine Dienerin sein.«
    Joys Gekicher hat nicht die übliche besänftigende Wirkung auf ihren Großvater, der mürrisch aus seinem Sessel zuschaut.
    »Eine Frau hat eine Schwiegermutter«, trällert Yen-yen. »Eine Frau verzweifelt an ihren Kindern. Sie muss ihrem Ehemann gehorchen, selbst wenn er unrecht hat. Eine Ehefrau muss arbeiten und arbeiten, hört jedoch nie ein Wort des Dankes. Es ist besser, eine Dienerin zu sein und damit deine eigene Herrin. Dann kannst du in den Brunnen springen, wenn du willst. Ach, hätten wir doch nur einen Brunnen...«
    Der Alte Herr Louie drückt sich vom Tisch ab. Wortlos zeigt er zur Tür, und wir verlassen die Wohnung. Es ist noch früh am Morgen, doch es wurden bereits verhängnisvolle Worte gesprochen.
    Tausende von Menschen kommen nach China City, und es wird ausgiebig gefeiert. Das aufwendige Feuerwerk knallt gewaltig. Die Drachen- und Löwentänzer

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